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Brüssel streitet um die Kinder des IS

Teri Schultz Charlotte Voß
19. Januar 2019

Wie soll man mit Familienangehörigen von ehemaligen belgischen IS-Kämpfern umgehen? Darüber wird derzeit in Belgien gestritten. Ein Gericht hat angeordnet, zumindest die Kinder ins Land zurückzuholen.

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Syrien IS Rakka Frau mit Kind auf der Straße
Bild: Getty Images/AFP/D. Souleiman

Heidi De Pauw hätte nie erwartet, dass sie in ihrem Job als Anwältin für benachteiligte Kinder Morddrohungen bekommen würde. Im Sommer 2018 begann die Organisation "Child Focus", deren belgisches Büro sie leitet, mit einer Kampagne, um Kinder von Migranten in Belgien, die für den IS in Syrien und im Irak gekämpft hatten, nach Belgien zu bringen.

De Pauws E-Mail-Posteingang und Social Media-Kanäle wurden von einer Hass-Welle überflutet: Gewaltbilder, Aussagen, wonach die Kinder stattdessen "wie Kätzchen ertränkt" werden sollten, Drohungen, sie umzubringen. Einige dieser Nachrichten sind auf ihrem Twitter-Feed offen sichtbar.

Kinder, die nicht spielen

"Ich konnte das nicht verstehen. Ich verteidige doch nur die Rechte der Kinder", sagte De Pauw der DW. Ihre Organisation hat 18 belgische Kinder identifiziert, die  - meist mit ihren Müttern, aber auch alleine - in Lagern von kurdischen Milizen in Syrien leben. "Über die Mütter können wir von mir aus sprechen. Die haben an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben die Entscheidung getroffen, sich dem IS anzuschließen. Aber die Kinder - die meisten von ihnen sind nicht einmal sechs Jahre alt. Das ist sehr schwierig für mich."

Im Oktober reiste De Pauw mit dem belgischen Journalisten Rudi Vranckx vom belgischen VRT-Fernsehen in die Lager im Norden Syriens. Ein herzzerreißender Besuch, erzählt sie. Viele der Kinder hatten noch nie ein Buch gesehen, hatten keine Ahnung, wie man spielt. Die schon mageren Lebensmittelrationen waren gekürzt worden. Die Vorräte brauche es für den Krieg mit der Türkei, sagten die kurdischen Milizen. "Du fängst an, an der Menschheit zu zweifeln", sagt sie. 

Syrien Heidi De Pauw hält ein kleines Kind in einem Gefangenenlager
Heidi De Pauw mit dem Kind eines ehemaligen IS-Kämpfers in einem Camp in Nord-SyrienBild: privat

De Pauw sagte, sie habe gespürt, dass sich die öffentliche Meinung geändert habe, nachdem die Belgier die Bilder von den sich verschlechternden Bedingungen für die Kinder gesehen hätten und wie jung sie seien. "Das war ein Wendepunkt", sagte sie - wenn auch nur vorübergehend.

Gericht verhängt Geldstrafe

Die belgische Regierung hatte zwar bereits beschlossen, dass Kinder von IS-Kämpfern unter zehn Jahren nach Belgien zurückkommen dürfen, sich aber um die Umsetzung dieser Entscheidung nicht bemüht. Vor allem gab es Zurückhaltung bei der Frage, ob man die Mütter akzeptieren solle.

Schwierigkeiten bereitete auch der Umgang mit den von den USA unterstützten kurdischen Milizen. Sie haben keine offizielle diplomatische Stellung oder die Autorität, Reisedokumente für Kinder ohne offizielle Identifikation auszustellen. Es gibt auch keine konsularischen Beziehungen zur syrischen Regierung, obwohl kurdische Gruppen damit drohen, ihre Gefangenen an das Regime auszuliefern.

Mit Hassbotschaften überschüttet

Im Dezember 2018 entschied ein belgisches Gericht zugunsten der beiden Frauen Bouchra Abouallal und Tatiana Wielandt, die mit ihren sechs Kindern im Flüchtlingslager Al-Hol in Syrien festgehalten wurden. Das flämische Gericht in erster Instanz in Brüssel  erklärte, die Frauen, deren Ehemänner beide IS-Kämpfer waren, müssten mit ihren Kindern zurück nach Belgien. Sollte dies nicht innerhalb von 40 Tagen, also bis Ende Januar, geschehen, drohe eine Geldstrafe von 5000 Euro pro Kind und Tag.

Obwohl der Gerichtsentscheid nur für diese beiden Familien gilt, plant die Regierung in Brüssel auch im Fall der 18 von der Organisation "Child Focus" identifizierten Kinder eine Rückführung. Seitdem Heidi De Pauw sich zu der Entscheidung, die Kinder aufzunehmen, öffentlich positiv geäußert hat, ist sie erneut mit Hassbotschaften überschüttet worden. 

Syrien Frau und Kind eines vermeintlichen IS Kämpfers in Rakka
Geflohen: Die Frau eines vermeintlichen ehemaligen IS-Kämpfers mit ihrer kleinen Tochter in RakkaBild: Getty Images/AFP/B. Kilic

Belgiens Asylministerin Maggie de Block hingegen will gegen das Urteil Berufung einlegen. Sie ist nicht bereit, Abouallal und Wielandt aufzunehmen. Auf Nachfrage erklärte eine Sprecherin des belgischen Justizministers Koen Geens per E-Mail, dass sie sich zu laufenden Gerichtsverfahren nicht äußern könne. Sie bestätigte, dass Dokumente für zwei junge belgische Mädchen in der Türkei vorbereitet würden, damit sie bei Verwandten wohnen könnten. Die Mutter der Mädchen war als IS-Unterstützerin in der Türkei verurteilt und inhaftiert worden.

Abwägung von Risiken

Thomas Renard, Experte für Terrorismusbekämpfung am belgischen Egmont Institute, hält die Belgier, die sich gegen die Rückführung der inhaftierten Familien aussprechen, für kurzsichtig. Er verweist auf die minimale Sicherheitsbedrohung, die die einst radikalisierten Frauen für die Gesellschaft darstellen könnten - im Vergleich zu der Alternative, sie in Syrien zu lassen, wo die Sicherheitslage sich von Tag zu Tag verschlechtere.

Verpasste Integration: Belgien ist überfordert

"Die kurdischen Behörden bitten die belgischen Behörden im Wesentlichen, diese Bürger zurückzunehmen", erklärte Renard. "Und es besteht ein erhöhtes Risiko, dass sie sie einfach gehen lassen." Und er warnt: "Das sind Individuen, die es rechtlich nicht gibt. Also keine Fingerabdrücke, keine Gesichtserkennung, kein aufgezeichneter Name, und das ist ein zusätzliches Sicherheitsrisiko, das wir berücksichtigen müssen."

Die Vorstellung, dass die Kinder in einigen Jahren "wieder auftauchen, aber komplett aus dem System verschwunden sind", sei besorgniserregend. Deshalb seien einige Experten davon überzeugt, dass es "besser ist, diese Frauen und Kinder zurückzubringen, solange wir sie noch nicht aus den Augen verloren haben".

Für Heidi de Pauw geht es schlicht um das Überleben der Kinder. Ein belgisches Kind sei bereits an den schlechten Bedingungen im Lager gestorben, sagte sie, ein anderes sei krank und brauche dringend eine gute medizinische Versorgung. "Wir sprechen von Kindern, die für mich unschuldig sind. Sie können nicht für die schrecklichen Fehler und Dinge verantwortlich gemacht werden, die ihre Eltern getan haben."