Botschafterin: "Erwartungen waren exorbitant"
26. Mai 2020DW: Wie hat sich die Zeit seit April 2018 in Äthiopien für Sie dargestellt - in der persönlichen wie der politischen Wahrnehmung? Auch in Bezug auf die sogenannte Öffnung des politischen Raumes, die Premierminister Abiy Ahmed angekündigt hat?
Brita Wagener: Das war natürlich eine ganz große Veränderung, die doch relativ unerwartet gekommen ist, und die viele Beobachter, mich eingeschlossen, sehr positiv überrascht hat. Ich war ja schon ein knappes Dreivierteljahr vorher hier und habe die Agonie der letzten Monate unter der vorherigen Regierung mitbekommen. Da gab es viele Unruhen und letztlich auch sehr viel Stillstand, so dass der Wandel hier für alle ein Gefühl des Aufbruchs hervorgerufen hat.
Die Stimmung im Lande war von großer Euphorie gekennzeichnet. Und dann gab es ja auch schnell erste sichtbare positive Ergebnisse, wie die Freilassung von politischen Gefangenen und die Schließung des berühmt-berüchtigten Gefängnisses [Maekelawi, die Red.] hier in Addis Abeba. Journalisten haben mir gesagt: Nein, Angst haben wir jetzt keine mehr. Ich habe von den Freilassungen gesprochen, aber es gab auch die Aufforderung an die politische Opposition, die im Exil war, zurückzukommen und sich am politischen Prozess zu beteiligen. Gesetze, wie das NGO-Gesetz, sind relativ schnell umgesetzt worden, so dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen viel freier agieren können, nicht mehr so gegängelt werden.
Es war wirklich eine ganz positive Stimmung, allerdings auch mit so hohen Erwartungen verbunden, dass es im Grunde sehr unwahrscheinlich war, dass sie alle in Erfüllung würden gehen können. Von daher sehr viel Positives, aber gleichzeitig derart viele positive Erwartungen an einen Prozess, der doch, wenn man es sich überlegt, ein kompletter Paradigmen- und Systemwechsel ist – und deshalb letztlich Zeit braucht.
Waren die Erwartungen an den Reform-Premier Abiy Ahmed einfach zu hoch? Er hat ja, zu allem Überfluss möchte man fast sagen, auch noch den Nobelpreis verliehen bekommen. Kann er überhaupt diese wahnsinnig hohen Erwartungen eines Volkes von 100 Millionen stemmen?
Die Erwartungen waren einfach exorbitant. Bei den vielen Dingen, die man von ihm erwartet, die er zum Teil ja auch versprochen hat und die er sicherlich auch erreichen will, in kurzer Zeit Sichtbares zu liefern - das war sicherlich kaum möglich. Es gab ja einmal die innenpolitische Öffnung, aber dazu kamen seine außenpolitischen Aktivitäten, etwa sein Zugehen auf Eritrea. Es waren schon eine Menge Dinge, die da bewegt worden sind. Aber in der Tat, niemand hat einen Zauberstab, mit dem man auch innerhalb von zwei Jahren ein ganzes System umkrempeln kann.
Zu allem Überfluss kommt nun auch die Corona-Krise in Äthiopien zu einem Zeitpunkt, als man sich unter einigen Mühen endlich auf einen Wahltermin Ende August geeinigt hatte. Verfassungsrechtler versuchen derzeit zu eruieren, wie man aus der gegenwärtigen Verfassungs- und Legitimitätskrise heraus kommt: Im Oktober läuft das Mandat der Regierung aus, es gibt noch keinen neuen Wahltermin, der kann auch realistischerweise derzeit gar nicht gesetzt werden. Wie stellt sich dieses Dilemma aus Ihrer Sicht dar?
Es ist in der Tat sehr unglücklich und letztlich auch traurig für das Land, dass viele Reformen, und natürlich vor allem die Abhaltung der Wahlen nach dem verfassungsmäßigen Zeitplan, durch die Corona-Krise durcheinandergebracht werden. Der Wahltermin von Ende August ist abgesagt worden. Nun bemühen sich Regierung, Parlament und Expertengremien darum, ein Verfahren festzulegen, auf dessen Grundlage diese Wahlverschiebung - und damit wahrscheinlich die Verlängerung der Regierung über die eigentliche Legislaturperiode hinaus - möglich gemacht werden können. Denn das muss rechtlich, letztlich aber auch politisch tragfähig sein.
Welche Rolle kommt Deutschland in diesem Prozess zu? Deutschland ist ein langjähriger Partner Äthiopiens, sowohl diplomatisch und politisch wie auch in der Entwicklungspartnerschaft. Es hat viele starke Signale gegeben aus Berlin ganz zu Beginn der Amtszeit von Premierminister Abiy. So hat Außenminister Maas seinen Antrittsbesuch in Afrika in Addis Abeba bei der AU und bilateral bei der äthiopischen Regierung gemacht. Es gab viele andere Signale, den Prozess im Land unterstützen zu wollen. Wo steht Deutschland jetzt? Vor allem: Haben Sie das Ohr der äthiopischen Regierung?
Deutschland hat, wie Sie sagen, hier sehr schnell Signale und Botschaften ausgesandt, dass es diese umfassende Reform unterstützen will. Das haben wir auch bislang getan. Wir haben gerade bei der bei den letzten Regierungsverhandlung Anfang des Jahres 340 Millionen Euro an neuer Hilfe zugesagt. Der Bundespräsident war Anfang 2019 hier, um deutlich zu machen, dass wir die Reformen sowohl im wirtschaftlichen als auch im politischen Bereich unterstützen. Wir wollen und wünschen uns, dass diese Reformen erfolgreich sein werden.
Wir unterstützen im Übrigen auch mit 10 Millionen Euro die Durchführung und Vorbereitung der Wahlen in Zusammenarbeit mit der EU und der äthiopischen Wahlkommission. Das wird auch weiter gehen. Wir haben weiterhin ein großes Interesse daran, dass die Wahlen transparent und fair abgehalten werden können. Es gehen ja auch im Land die Reformen weiter, aber zum Teil eben verzögert. Was den politischen Bereich anbelangt, haben wir immer betont, dass wir auf der Seite der Reformen stehen und dass wir diese auch weiterhin unterstützen werden.
Föderalismusberatung ist ein erfolgreiches Produkt deutscher Zusammenarbeit [mit Äthiopien]. Das System des ethnischen Föderalismus in Äthiopien ist derzeit einem starken Stresstest ausgesetzt. Die großen Volksgruppen sortieren sich neu. Das geht auch wieder mit politischer Gewalt einher. Kommt da Deutschland nicht eine besondere Rolle zu? Sind Sie im Gespräch mit den Behörden, um gezielt Hilfe anzubieten?
Diese ethnischen Auseinandersetzungen oder politischen Auseinandersetzungen entlang ethnischer Linien sind beunruhigend. Das ist sicherlich eine der größten Herausforderungen dieser Regierung. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der auch im Zusammenhang mit den Wahlen eine wichtige Rolle spielt. Deutschland hat hier übergreifend über die verschiedenen politischen Kräfte unterstützt. Das ist uns ein wichtiges Anliegen. Wir haben Besuche von äthiopischen Abgeordneten in Deutschland organisiert, die den Bundesrat und den Bundestag besucht und Besuche in den Bundesländern unternommen haben, um einen Eindruck zu bekommen von unserem föderalen System.
Das Thema Föderalismus war auch Thema beim jüngsten Delegationsbesuch des Friedensministeriums in Deutschland. Anschlussprojekte dazu sind geplant, aber im Augenblick noch nicht konkretisiert. Es gibt noch kein großes Programm zum Thema Föderalismus, wobei das Thema eines ist, bei dem Deutschland in der Vergangenheit auch schon mit dem House of Federations und dem Parlament zusammengearbeitet hat.
Es gibt natürlich auch andere Länder, die ein föderales System haben und auch hier aktiv waren, wie Kanada zum Beispiel. Das ist in der Tat ein sehr wichtiges und extrem sensibles Thema: Wie in Zukunft mit dem sogenannten ethnischen Föderalismus in Äthiopien umgegangen wird. Aber da werden sich sicherlich keine entscheidenden Veränderungen vor den Wahlen ergeben.
Lassen Sie uns auf die globale geopolitische Tektonik zu sprechen kommen, die sich aus der Perspektive Äthiopiens derzeit verschiebt. Merken Sie, dass Deutschland, dass Europa, die in der Corona-Krise, aber auch schon zuvor sehr stark mit sich selbst beschäftigt sind, zurückfallen als Ansprechpartner? Dass sich die Äthiopier Richtung China orientieren, dass auch andere Akteure wie die Türkei ins Rennen kommen? Ist das etwas, was Ihnen Sorge bereitet?
Natürlich werden sich die Äthiopier dahin wenden, wo sie das Gefühl haben, dass sie Unterstützung bekommen. Aber Europa und auch Deutschland sind nach wie ganz wichtige Gesprächspartner, nicht nur im Bereich der Entwicklungspartnerschaft, sondern auch bei der Bekämpfung der [Corona-] Pandemie. Man muss schon sehr genau hingucken, welche Akteure hier welche Unterstützung und Angebote machen. Die Chinesen sind in Äthiopien natürlich sehr sichtbar gewesen mit der Lieferung von medizinischer Ausrüstung. Das wurde auch in einer sehr sichtbaren Art und Weise kommuniziert, und die Äthiopier haben das dann ja auch in ganz Afrika verteilt. Aber wenn man genau schaut, wer hier welche Unterstützung leistet: Wir haben nochmal 120 Millionen im Zusammenhang mit Corona zugesagt, und das wird hier auch sehr wohl wahrgenommen bei der äthiopischen Regierung.
Die Corona-Krise hat die Kooperation zwischen EU und Afrikanischer Union (AU) zu einer Zeit getroffen, in der sich die neue deutsche Kommissionspräsidentin sehr um die Kontinentalunion bemüht hatte. Wie steht es aus Ihrer Sicht - am Sitz der AU - um das bilaterale Verhältnis Brüssel-Addis?
Es ist sicherlich sehr unglücklich, dass die Corona-Krise gerade in diesem Augenblick aufgetaucht ist, wo in der Tat verstärkte Anstrengungen für eine Annäherung und einer strategischeren Ausrichtung der Partnerschaft zwischen AU und EU initiiert worden waren. Aber das ist sicherlich nicht aufgehoben. Wir rechnen damit, dass die Gespräche zwischen AU und EU in Vorbereitung verschiedener Konferenzen und Treffen, die geplant sind, in Kürze wieder intensiver aufgenommen werden. Zum Thema Corona muss man z.B. sagen, dass es in der Pandemie-Bekämpfung eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen EU und AU, als auch zwischen Deutschland und der Afrikanischen Union, insbesondere dem Afrikanischen Center for Disease Control gibt. Im Augenblick steht das im Vordergrund, was aber nicht heißt, dass die anderen Fragen jetzt auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden.
Die Diplomatin Brita Wagener ist seit 2017 Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland in Addis Abeba. Dort ist sie zuständig für die Beziehungen Deutschlands zu Äthiopien sowie zur Afrikanischen Union, die ihren Hauptsitz in der äthiopischen Hauptstadt hat.
Die Fragen stellte Ludger Schadomsky.