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"Boko Haram" schlägt erneut in Nigeria zu

7. November 2011

Bei einer Bombenserie in Nigeria sind am Wochenende vermutlich weit mehr als 100 Menschen getötet worden. Zu den Anschlägen bekennt sich die radikalislamische Sekte "Boko Haram".

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Ausgebranntes Auto in Damaturu (Foto: dpa)
Spuren der Anschläge: ausgebranntes Auto in DamaturuBild: picture-alliance/dpa

Diesmal starteten die Terroristen ihre Angriffe im Bundesstaat Yobe. Der grenzt unmittelbar an das bisherige Hauptaktionsfeld der Gruppe, den Bundesstaat Borno mit seiner Hauptstadt Maiduguri. Die Millionenstadt im äußersten Nordosten Nigerias macht schon seit Monaten den Eindruck einer belagerten Stadt. Viele Menschen sind vor den dauernden Bombenanschlägen und den Repressalien der Sicherheitskräfte geflohen - unter anderem ins benachbarte Yobe. Nun holt sie der Terror dort ein.

Auch in der Hauptstadt Abuja nimmt die Angst vor neuen Anschlägen wieder zu. Zuletzt hatte "Boko Haram" mit einem Selbstmordanschlag auf das dortige UN-Gebäude am 26. August 2011 deutlich gemacht, dass die Terroristen nun auch Ausländer ins Visir nehmen würden. Botschaften wie die der USA und Deutschlands warnen nun davor, dass große Hotels zum Ziel werden könnten.

Abschlusszeugnisse vernichtet

Militärposten in Maiduguri (Foto: dapd)
Militärposten in MaiduguriBild: dapd

Die extremistische Gruppe, die heute unter dem Namen "Boko Haram" bekannt ist, wurde vermutlich schon 2002 im Nordosten Nigerias gegründet. "Boko Haram" bedeutet in der Haussa-Sprache "moderne Bildung ist Sünde". Ihr Anführer Mohammed Yusuf predigte zunächst friedlich gegen jeden vermeintlich westlichen Einfluss auf die Gesellschaft im muslimisch dominierten Norden Nigerias. Er versammelte vor allem enttäuschte junge Männer um sich, die trotz Schul- oder Studienabschluss keine Arbeit finden konnten.

Einer von ihnen, der seinen Namen nicht nennen will, berichtete DW-WORLD.DE, wie er zu der Gruppe stieß: "Ich habe mein Studium mit einem Bachelor abgeschlossen, aber ich habe alle Zeugnisse vernichtet und mich der Lehre von Mohammed Yusuf angeschlossen." Davor habe er nach dem Abschluss seines Studiums keine Arbeit gefunden. "Man hat uns schöne Versprechungen gemacht. Wir sollten Hilfe bekommen, um Bewässerungsfeldbau zu machen." Doch am Ende sei aus all den Versprechungen nichts geworden, erzählt der Mann, der sich selbst als "Mujahid" bezeichnet, als Kämpfer für die Sache Gottes. Wenn es in Nigeria gerecht und ehrlich zuginge, dann hätten er und seine Freunde sich nicht der Gewalt verschrieben, betont er.

Für die meisten Beobachter ist deshalb "Boko Haram" zunächst eine lokale Reaktion auf die enormen sozialen Ungerechtigkeiten und die Korruption der politischen Klasse.

Erster Höhepunkt der Gewalt 2009

Schon wenige Jahre nach ihrer Gründung geriet die "Yussufiya", wie die Gruppe nach ihrem Anführer auch genannt wird, mit der Polizei in Konflikt. Im ländlichen Bundesstaat Yobe im Nordosten Nigerias hatten sich die Fundamentalisten in einigen Dörfern festgesetzt und von dort Polizeiwachen angegriffen. Den ersten großen Kampf mit den Sicherheitskräften lieferten sich Mohammed Yussuf und seine Anhänger 2009 in ihrer Hochburg Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaats Borno nahe der Grenze zu Kamerun und Tschad.

Unruhen in Nigeria 2009 (Foto: dpa)
800 Tote: Erste große Kämpfe mit Sicherheitskräften lieferte sich Boko Haram 2009Bild: picture-alliance/ dpa

Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen verloren 800 Menschen ihr Leben. Yussuf selbst wurde erschossen, nachdem das Militär ihn der Polizei übergeben hatte. Das Massaker und die offensichtlich extra-legale Exekution ihres Anführers ist die Hauptursache für den gesteigerten Hass der Gruppe auf die Sicherheitskräfte und die politische Führung.

Christen im Nordosten leben in Angst

Porträt von Oliver Doeme Dashe, Bischof von Maiduguri (Foto: Usman Shehu)
Oliver Doeme Dashe, Bischof von Maiduguri, sorgt sich um seine GemeindeBild: DW

Seit Mitte 2010 haben sich Sprecher von "Boko Haram" wiederholt zu politischen Morden sowie Anschlägen auf Polizeistationen und Kirchen bekannt. Auch in Yobes Hauptstadt Damaturu griffen die Terroristen nun ebenfalls Kirchen an.

Die kleine christliche Minderheit im Nordosten Nigerias lebt denn auch in Angst. An der katholischen Kathedrale in Maiduguri explodierten im Juni 2011 gleich zwei Mal Bomben. Bischof Oliver Doeme Dashe lobt, dass der Gouverneur von Borno danach die Kirche besucht habe. Das sei ein wichtiges Signal gewesen, betont Doeme Dashe. "Aber es bleibt noch viel zu tun. Denn wir haben ja schon sehr viele Sicherheitskräfte hier und diese Leute schlagen immer noch zu." Offensichtlich bekämen Polizei und Militär die Lage nicht in den Griff. "Das macht uns große Sorgen", erklärt der Bischof die Stimmung in seiner Gemeinde.

Dialog noch nicht in Sicht

Ob Christen oder Muslime, Vertreter der Zivilgesellschaft oder Politiker – wer sich zu dem Thema äußert, setzt auf eine politische, möglichst friedliche Lösung. Neben Präsident Goodluck Jonathan hat auch der Gouverneur von Borno, Kashim Shettima, den Islamisten einen Dialog angeboten. "'Boko Haram' ist ein politisches Problem und ein politisches Problem braucht eine politische Lösung", betont Shettima im Gespräch mit DW-WORLD.DE. Eine ausschließlich militärische Strategie drohe in einen endlosen Kampf zu münden. Doch für Shettima ist klar: "Wir können mit ihnen aber nur aus einer Position der Stärke verhandeln, nicht aus einer Position der Schwäche."

Für die Position der Stärke ist eine gemeinsame Einsatztruppe aus Militär und Polizei zuständig. Doch in den letzten Monaten haben die Terroristen immer wieder gezeigt, dass sie Drohungen und eine Verstärkung der Sicherheitskräfte nicht abschrecken.

Kashim Shettima, Gouverneur von Borno State (Foto: Usman Shehu)
Setzt auf Diplomatie: Kashim Shettima, Gouverneur von Borno StateBild: DW

Sprecher der Gruppe, die offenbar in radikalere und dialogbereite Flügel gespalten ist, erklärten, dass es Gespräche nur geben könne, wenn in Nordnigeria das islamische Sharia-Recht zu hundert Prozent umgesetzt würde und Gouverneur Shettima zurücktrete.

Die Islamisten reden inzwischen offen davon, dass Kämpfer in Somalia von den Al-Kaida-nahen Al-Shabaab-Milizen ausgebildet würden. Viele Beobacher der Islamisten-Szene in Nigeria halten dies für glaubwürdig. Außerdem haben sich in den letzten Jahren offenbar viele andere Unzufriedene in Nordnigeria den "Boko Haram" angeschlossen, sodass ihr Einfluss weit über den ursprünglichen Kern hinausgeht.

Gouverneur Shettima setzt trotzdem auch nach den jüngsten Angriffen auf Dialog. In einer von der Nachrichtenagentur "Reuters" zitierten Erklärung forderte er "Boko Haram" auf, die Gesprächsangebote anzunehmen. Doch deren Groll sitzt tief. Der Kämpfer aus unserem Interview sieht weder auf Seiten der Politik noch auf Seiten von "Boko Haram" Persönlichkeiten, die einen Dialog führen könnten: "Die haben unsere Leute umgebracht. Einige wurden aus Krankenhäusern verschleppt, einige wurden im Gefängnis vergiftet. Sie haben unseren Anführer getötet und einige andere, die Ansprechpartner für einen Dialog sein könnten, wenn sie noch am Leben wären."

Die nigerianische Regierung hat offensichtlich immer noch kein Rezept für den Umgang mit den Terroristen gefunden. Sie steckt in einer Zwickmühle. Einerseits gibt es offenbar unter den Islamisten solche, die einen Ausweg aus der Gewalt suchen. Andere dagegen haben sich offenbar dem Ansatz von Al-Kaida verschrieben und wollen Nigeria zu einem weiteren Schlachtfeld im Kampf gegen "den Westen" machen. Diese dürften für einen Dialog kaum noch zu gewinnen sein.

Autor: Thomas Mösch
Redaktion: Katrin Ogunsade