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"Boko-Haram-Opfer brauchen eine Stimme"

Thomas Mösch / gh3. August 2015

Den Erfolgsmeldungen zum Trotz: Der Boko-Haram-Terror in Nigeria nimmt so schnell kein Ende. Saratu Abiola will den Opfern, die im Süden des Landes kaum gehört werden, Gehör verschaffen. Die DW sprach mit der Bloggerin.

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Nigeria Flüchtlinge wegen der Offensive gegen Boko Haram
Bild: Reuters/A. Sotunde

In den letzten Tagen überschlagen sich die Berichte über Geiseln, die aus der Gewalt von Boko Haram befreit wurden. Doch parallel zu den Erfolgsmeldungen bombardieren, attackieren und terrorisieren die Islamisten weiter Gemeinden in Nigerias Nordosten - vor allem in den Bundesstaaten Borno, Yobe, Adamawa und Gombe. Die Nigerianerin Saratu Abiola will den Opfern von Gewaltverbrechen im Nordosten eine Stimme geben. 2014 rief sie das Testimonial Archive Project ins Leben. Ein Onlinearchiv, in dem persönliche Schicksale von Opfern und Einwohnern gesammelt und veröffentlicht werden.

DW: Frau Abiola, was war Ihre persönliche Ambition, dieses Projekt ins Leben zu rufen?

Saratu Abiola: Die lokale Berichterstattung über den Konflikt in Nordostnigeria legt den Fokus überwiegend auf die politische Ebene und auf die Analyse der Täter. Aus der Perspektive der Opfer wird seltener berichtet, was natürlich frustrierend für die Betroffenen ist. Außerdem ermüdet diese Berichterstattung die Leute, die nicht in der Region leben, weil sie das Gefühl bekommen, das Ganze sei eine politische Sache, die gewöhnliche Nigerianer nicht betrifft. Nigeria ist groß und Lagos und Port Harcourt sind weit weg vom Bundesstaat Borno - die Menschen im Süden wissen gar nicht, was in diesen Konfliktregionen los ist. Deshalb ist es wichtig, dass man über diese menschlichen Schicksale berichtet, damit sie wissen, was in ihrem eigenen Land passiert und warum es sie doch betrifft. Nur so kann man sie dazu bringen, Druck auf die eigene Regierung auszuüben.

DW: Woher beziehen Sie die Nachrichten oder Schicksale, die Sie auf Ihrer Seite veröffentlichen?

Wir arbeiten eng mit zivilgesellschaftlichen Organisationen in den betroffenen Regionen zusammen. Die vermitteln uns dann Menschen, die direkt Opfer von Gewaltverbrechen geworden sind. Wir arbeiten aber auch mit Experten zusammen, die sich mit Themen beschäftigen, die Folgen des Terrors sind, wie Gewalt gegen Frauen, Entführungen und Menschenrechtsverletzungen. Wir interviewen zwar keine Soldaten, aber in letzter Zeit haben wir mit Mitgliedern der zivilen Einsatztruppe gesprochen, die in Maiduguri gegen Boko Haram kämpft: über ihre Erfahrungen, wie sie selbst der Gewalt entkommen sind und was ihre Motivation war, sich dieser Truppe anzuschließen.

DW: Was für Leute nutzen Ihr Onlinearchiv?

Die Interessen der Nutzer sind sehr vielfältig. Viele Leute besuchen die Webseite, weil sie wissen wollen, was wirklich vor Ort passiert. Das ist auch die primäre Zielgruppe, für die wir dieses Projekt ins Leben gerufen haben. Andere wollen eine NGO gründen und sich informieren, was vor Ort benötigt wird und wie sie helfen können. Auch Forscher von Menschenrechtorganisationen und Sicherheitsexperten suchen bei uns nach Schicksalen, die sie in ihre Berichten aufnehmen. Die Medien nutzen gerne unsere Interviews, um zu zeigen, was in der Region passiert und was die Regierung dagegen tut - oder auch nicht tut.

DW: Wie finanzieren Sie das Projekt?

Leider ist das Testimonial Archive Project keine registrierte Organisation, weshalb wir keine Unterstützung bekommen. Ich würde das gerne in naher Zukunft ändern, aber bis dahin ist es unser privates Geld und unsere Zeit, die wir investieren.

DW: Wie bewerten Sie die aktuelle humanitäre Lage im Nordosten Nigerias?

Gemessen an der Zahl der Binnenflüchtlinge, befinden wir uns in einer humanitären Krise. Millionen Menschen sind innerhalb Nigerias auf der Flucht. Viele fliehen aber auch in die Nachbarländer. Auf der Suche nach Schutz ziehen sie von einem Land in das andere, weil viele Lager voll sind und sie dort nicht erwünscht sind. Ein weiteres Sicherheitsrisiko ist, dass viele Flüchtlinge zu Fuß in den umkämpften Gebieten unterwegs sind. Es gibt viele Fälle, in denen Frauen und Kinder als Arbeits- oder Sexsklaven verkauft werden. Menschenhändler locken Flüchtlinge aus den Lagern, indem sie ihnen Arbeit versprechen. Wir sehen auch immer wieder, dass Verwalter von Flüchtlingslagern Essen gegen Sex zur Verfügung stellen. Oft wirkt sich die Situation in den Lagern auch auf die umliegenden Wohngebiete aus. Das können gesundheitliche Gefahren wie Choleraausbrüche sein, aber auch soziale Probleme. Wenn man Millionen von schlecht ausgebildeten Menschen in einkommensschwache Regionen bringt, in denen es sowieso schon viele Arbeitslose gibt, ist das niemals gut für die Sicherheitslage, auch ohne Terrorismus.

DW: Welche Rolle spielt die Regierung bei der Bewältigung dieser humanitären Krise?

Zurzeit gibt es auf föderaler Ebene keine Regierungsprogramme, die koordinieren, wie viele Flüchtlinge es in den einzelnen Bundesländern gibt, wo sie herkommen und wie viel Hilfe sie bisher bekommen haben. Bei vielen Dingen sind den Landesregierungen die Hände gebunden, aber ich denke, in letzter Zeit kann man wirklich Bemühungen der regionalen Regierungen sehen, die humanitäre Krise in den Griff zu bekommen.

Saratu Abiola ist die Gründerin des Testimonial Archive Project mit Sitz in Nigerias Hauptstadt Abuja. Die Autorin und Bloggerin hat einen Abschluss in Internationalen Beziehungen an der Universität in North Carolina.

Das Interview führte Thomas Mösch, Leiter der DW-Haussa-Redaktion.