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Blind forschen: "Atome können wir alle nicht sehen"

Marie Sina
21. Oktober 2021

Farben zum Hören, Flussbetten zum Ertasten und Moleküle zum Plattdrücken. Eine Schule in Marburg beweist, dass wir Naturwissenschaften mit allen Sinnen entdecken können.

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Die sehbehinderte Schülerin Alexandra Dunayeva hält ein Reagenzglas mit einer Zange
Alexandra Dunayeva ist sehbehindert. Sie belegte den Chemie-Leistungskurs an der Carl-Strehl-Schule in Marburg.Bild: Marie Sina/DW

"Piep" - Alexandra Dunayeva hört die gelbe Farbe im Reagenzglas: "Das ist eine helle Lösung." Mit Hilfe ihres Chemielehrers, Tobias Mahnke, hält die 21-jährige sehbehinderte Frau einen kleinen Apparat an das Gläschen. Das Optophon wandelt Farben in Töne um: hohe Töne für helle und tiefe Töne für dunkle Farben. 

"Im Chemieunterricht heißt es immer: 'Farben sind so wichtig.' Aber das sind sie eigentlich gar nicht. Das Wesen einer Lösung ist nicht die Farbe, sondern wie sich die Lösung durch eine Reaktion verändert hat", sagt Mahnke. Er lehrt Naturwissenschaften an der Carl-Strehl-Schule, die zur Blindenstudienanstalt, oder Blista, in Marburg gehört. Seit 1916 ist es das weltweit erste Gymnasium für blinde und sehbehinderte Jugendliche. 

Das Marburger Schloss auf einem Hügel, umzingelt von Häusern der Stadt Marburg
Dank der Blista gilt Marburg als die blindenfreundlichste Stadt DeutschlandsBild: Nadine Weigel/dpa/picture alliance

Neben dem Optophon stammen noch unzählige andere Erfindungen aus der Blista. Weltweit rechnen blinde Schülerinnen und Schüler mit einer taktilen, einer ertastbaren, Mathematikschrift, die hier erfunden wurde. Rund um Marburg piepst, brummt und summt es: Deutschlands erste Blindenampel wurde 1971 am Fuß der Schule angebracht. Nun wollen die Lehrer und Schüler der Blista ein neues Feld für blinde Menschen öffnen: die Naturwissenschaften.

Blinde Schüler werden ausgeschlossen

"Atome und Moleküle können auch sehende Schüler nicht mit dem Auge erkennen. Trotzdem ist der Chemieunterricht an Regelschulen sehr visuell", beklagt Mahnke. Vom Bunsenbrenner über Laborversuche bis zu komplizierten Abbildungen: Bis jetzt gab es in einem Fach wie Chemie für blinde Schüler viele Barrieren. "Die klassische Ausrede bei Versuchen ist immer: Es ist zu gefährlich", kritisiert Dunayeva, die 2020 an der Schule ihr Abitur machte und nun Chemie studiert.

Das ist seit ein paar Jahren für die 250 Schülerinnen und Schüler der Blista anders. 2017 entwickelte Mahnke in seinem Kollegenkreis den ersten Chemie-Leistungskurs der Schule. 

Mahnke und Dunayeva arbeiten mit verchiedenen zwei- und dreidimensionalen Modellen eines Wassermoleküls
Ein Molekül mit vielen Darstellungsformen: Modellen vermitteln ein tiefgründiges Verständnis für den Aufbau des MolekülsBild: Marie Sina/DW

Im Chemieraum der Blista legt Mahnke das dreidimensionale Modell eines Wassermoleküls auf den Tisch und legt Dunayevas flache Hand auf den hölzernen Tetraeder, sodass sie ihn plattdrückt. "So kann man die einzelnen Atome und die Spannung zwischen den Atomen wirklich spüren", erklärt er. Die Methode hilft den blinden Schülern dabei, sich vorzustellen, wie die Moleküle zweidimensional abgebildet werden.

Wissenschaft spüren statt nur abzeichnen

Anstatt Moleküle an die Tafel zu malen, haben Mahnke und seine Kollegin Tanja Schapat in Kooperation mit der Chemiefakultät der Universität Marburg Methoden und Materialien für alle Sinne entwickelt. Der Lernstoff ist dadurch greifbar geworden.

Dazu gehören Magnetmodelle, mit denen die Schüler Moleküle und Reaktionen legen können. Im Gegensatz zum Unterricht an Regelschulen besteht Chemie hier nicht nur aus Pfeilen und Abbildungen, sondern aus beweglichen Gegenständen, die den gesamten chemischen Prozess darstellen können. "Das Tafelbild ist statisch, aber Moleküle bewegen sich. Ich lasse die Schüler die Dynamik nachfühlen", sagt Mahnke. 

Ein Reagenzglas wird über einen Bunesenbrenner gehalten
Experimentieren für alle: Schüler benutzen Bunsenbrenner, die wie Toaster funktionieren, um offene Flammen zu vermeidenBild: Marie Sina/DW

Die multisensorischen Modelle sind weltweit einzigartig - nur an der Blista können Schüler Naturwissenschaften so hautnah erfahren. Am 3D-Modell eines Flussbetts, das unter den Wasserhahn gehalten wird, erfahren sie, wo im Fluss die stärkste Strömung ist und wie sich das Bett neigt.

Um den Schülern die Eigenschaften von Feuer beizubringen, verwenden Mahnke und Schapat Schwellpapier (Spezialpapier zur Erzeugung ertastbarer Grafiken für Blinde), das sich über einer heißen Flamme wölbt. "Ich mochte die Chemieklausuren hier, denn ich habe mich immer davor gefragt, welche lustigen Dinge sich Herr Mahnke dieses Mal einfallen lässt", meint Dunayeva. 

Chemielehrer Tobias Mahnke leitet die Hände von Schülerin Alexandra Dunayeva, sodass sie die wärmer einer Flamme spüren kann
Für viele Blinde Schüler ist Feuer Zuhause ein Tabu. Chemielehrer Mahnke will sie daher mit dem Element vertraut machen.Bild: Marie Sina/DW

Wer wagt den Sprung ins naturwissenschaftliche Studium?

Jedes Jahr absolvieren ungefähr 30 Schüler an der Blista ihr Abitur. Mehr als die Hälfte von ihnen beginnt anschließend ein Studium. Jura und Psychologie schneiden als Studienfächer jedes Jahr besonders gut ab. Weil die Fächer auf Text basieren, lassen sie sich mit Hilfe von Blindenschrift und Bildschirmlesern gut studieren.

Für ein naturwissenschaftliches Studium entscheiden sich nur wenige. Wie viele es in Deutschland insgesamt sind, ist unbekannt, denn es gibt zu blinden und sehbehinderten Studierenden keine empirischen Daten. An der Blista sind es pro Jahr meist nur ein oder zwei Schüler. 

Ein 3D-Modell eines Flussbetss wird unter den Wasserhahn gehalten, sodass die Schüler mit dem Finger die Strömung des Wassers spüren können
Strömung können Schüler am Flussmodell wirklich erfahren. Die Lehrer Mahnke und Schapat haben es in 3D gedruckt. Bild: Marie Sina/DW

Einer von ihnen ist Pascal Tödter. Er studiert im fünften Semester Physik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Das KIT setzt sich im Vergleich zu anderen deutschen Universitäten besonders für sehbehinderte und blinde Studierende ein. Trotzdem ist Tödter dort erst der dritte blinde Physikstudent in diesem Jahrtausend. Das ist nicht überraschend, denn ähnlich wie an Schulen ist ein Physikstudium für blinde Studierende noch mit vielen Hürden versehen. 

Du musst dir alles selber beibringen

Vor Studienbeginn, als sich andere Abiturienten noch ausruhen konnten, musste Tödter eine neue Sprache lernen: die Programmiersprache LaTeX. "LaTeX muss man ganz schnell supergut können, denn das ist in den Naturwissenschaften die Schnittstelle zwischen Blinden und Sehenden", erklärt er. Mit LaTeX können Formeln, die für Sehende geschrieben wurden, so übersetzt werden, dass Studenten wie Tödter sie auf der Braillezeile ertasten können. 

Wenn er in Vorlesungen Notizen macht, dann schreibt er sie in LaTeX-Code. Das dauert lange, denn ein einfacher Bruch wie ½ besteht für Tödter aus insgesamt zehn Zeichen. Erläutert der Professor den Lernstoff Anhand einer Abbildung, bekommt Tödter eine taktile Version, die er ertastet. Besonders bei komplizierten Abbildungen ist das unter Zeitdruck aber oft unmöglich. 

Eine blinde Studentin erstastet eine Formel auf der Braillezeile
Formeln müssen in die Programmiersprache LaTeX übersetzt werden und können dann auf der Braillezeile ertastet werdenBild: Marie Sina/DW

"Die Vorlesungen sind meistens nicht nützlich für mich, weil das einfach zu schnell geht", erklärt Tödter. Insgesamt brauche er ungefähr doppelt so lange wie sehende Studierende, um das Material zu lernen. "Man muss sich alles Zuhause selber beibringen, nach den Vorlesungen und Tutorien." 

Sinnlich lernen alle besser

Dank seiner Zeit in Marburg interessiert sich Tödter besonders für Forschung. "An der Blista fand ich cool, dass ich auch selber Sachen wie Experimente machen konnte", lobt er. Ohne die Materialien aus der Blista kann er als Student am KIT im Labor nur den Papierkram erledigen. "Mein Freund macht dann den Versuch und ich schreibe die Werte auf. Das ist sehr langweilig. Einmal haben wir 160 Werte aufgenommen, da schaltet man irgendwann ab." 

Tödter will trotzdem einen Master-Abschluss in Physik machen. Illusionen macht er sich jedoch keine: "Schon als Sehender braucht man viel Durchsetzungsvermögen, um ein naturwissenschaftliches Studium durchzuziehen. Als Blinder noch mehr." 

Er hofft, dass sich bald mehr blinde Menschen trauen, eine Naturwissenschaft zu studieren. "Je mehr Leute das studieren, desto besser werden die Voraussetzungen in Zukunft sein." Auch Lehrer Mahnke ist optimistisch, dass die Wissenschaft inklusiver werden kann. Mit sinnlicheren Unterrichtsmodellen lernen nämlich nicht nur blinde, sondern auch sehende Schüler besser.