1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

EU-Gipfel kommt bei Corona-Hilfen nicht voran

17. Juli 2020

Nach 14 Stunden Dauersitzung hat die EU ihren Sondergipfel zu einem riesigen Finanzpaket auf Samstagvormittag vertagt. Die Verhandlungen seien in einer "schwierigen Phase" sagen EU-Diplomaten. Bernd Riegert aus Brüssel.

https://p.dw.com/p/3fVqB
Belgien  EU Ratsitzung  Treffen EU Rat Brüssel
Bundeskanzlerin Merkel soll einen Kompromiss finden, hoffen die zerstrittenen Herren in blau hinter ihr.Bild: Reuters/F. Lenoir

Die Verhandlungen der 27 Staats- und Regierungschefs der EU waren am ersten von zwei geplanten Tagen für den Sondergipfel zum Corona-Finanzpaket äußerst zäh. "Jeder blieb bei seiner Meinung. Eine schwierige Phase", hieß es kurz vor Mitternacht von teilnehmenden EU-Diplomaten. "Es herrscht Abstand, großer Abstand, im wörtlichen Sinne als auch im übertragenden Sinne", meint ein EU-Diplomat nach den ersten Aussprachen zum Corona-Aufbaufonds und dem mehrjährigen EU-Haushalt. Die 27 Staats- und Regierungschefs sitzen weit auseinander im Sitzungssaal im Brüsseler Ratsgebäude, der normalerweise bis zu 300 Personen Platz bietet. Weit auseinander liegen auch noch die Positionen der Mitgliedsstaaten zum größten je von der EU verabschiedeten Finanzpaket, das der ständige Ratsvorsitzende Charles Michel auf den Tisch gelegt hat.

Belgien Brüssel EU-Gipfel | Sitzungssaal
Der Abstand der Sitze und der Meinungen ist gewaltig im Tagungssaal in BrüsselBild: Reuters/F. Lenoir

Klares Nein aus Österreich

Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis berichtete aus der laufenden Sitzung, niemand habe sich wesentlich bewegt. "Ich habe nicht den Eindruck, dass wir einer Einigung näher kommen." Babis bezweifelt die Sinnhaftigkeit eines 750 Milliarden Euro großen Aufbaufonds nach der Corona-Krise, der vor allem den südlichen Mitgliedsstaaten der EU zugute kommen würde. 

Der Bundeskanzler von Österreich, Sebastian Kurz, sagte im österreichischen Fernsehsender ORF, er lehne den Vorschlag des ständigen Ratspräsidenten Charles Michel weiter ab. Eine dauerhafte Aufnahme von Schulden durch die EU sei mit Österreich nicht zu machen. Diese gemeinsame Schuldenaufnahme ist allerdings der Kern der Finanzierung des Aufbaufonds. 

In einer Reihe von bilateralen Gesprächen hatten der Vorsitzende der Gipfelrunde Charles Michel und die zeitweilige Vorsitzende des Rates, Bundeskanzlerin Angela Merkel, versucht Kompromisslinien auszuloten. Danach wurden die Verhandlungen in großer Runde beim Abendessen am Freitagabend fortgesetzt. Gestritten wurde dort nicht nur über den Aufbaufonds, sondern auch über die Verwendung der Mittel aus dem sieben Jahren währenden EU-Haushalt in Höhe von rund 1,1 Billionen Euro.

Merkel soll als Ratsvorsitzende vermitteln. Sie hat als erfahrene Vertreterin des größten Mitgliedslandes auch das meiste Geld zu verteilen. Deutschland müsste nach einer Berechnung der EU-Kommission vom Aufbaufonds 133 Milliarden Euro finanzieren. Deutschland sei bereit, sich einzubringen, sagt Merkel vor dem Gipfel: "Ich werde Charles Michel stark unter die Arme greifen."

Merkel nicht sonderlich optimistisch

Die Beratungen sollen am Samstag fortgesetzt werden. Es wurden einige Änderungsvorschläge am Haushaltentwurf skizziert, die die 27 Staats- und Regierungschef jetzt für sich im Hotel überdenken sollen. Umstritten ist vor allem der Anspruch des niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte, ein Veto über die Verwendung von Aufbau-Mitteln in Italien oder Spanien zu haben. Die Empfängerländer lehnen das empört ab.

Angela Merkel gab zu Beginn des Gipfeltreffen zurückhaltend: "Ich muss sagen, die Unterschiede sind noch sehr groß, und ich kann nicht sagen, ob wir bei diesem Mal schon zu einem Ergebnis kommen. Wünschenswert wäre es."

In den nächsten Tagen stünden "sehr, sehr schwere Verhandlungen" bevor. Am Samstag soll bis zum Abend entschieden werden, ob es sich lohnt in intensives nächtliches Feilschen einzusteigen. Der Gipfel könnte dazu bis Montag verlängert werden, heißt es von EU-Diplomaten. Scheitert dieser Versuch, soll ein zweiter Sondergipfel noch im Juli folgen.

Belgien  EU Ratsitzung  Treffen EU Rat Brüssel
Die Nase ist zu frei, scheint Kanzlerin Merkel dem bulgarischen Premier Borissow zu sagen: Corona-Etikette beim EU-GipfelBild: Reuters/S. Lecocq

Der französische Präsident Emmanuel Macron, der zusammen mit Merkel einen Aufbaufonds für die Wirtschaft nach Corona im Wert von 500 Milliarden Euro vorgeschlagen hat, gibt sich zuversichtlicher. "Wir müssen einen Kompromiss finden, und ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen", sagt Macron bei seiner Ankunft in Brüssel. Dies sei "die Stunde der Wahrheit für unsere europäischen Ambitionen", so der französische Präsident.

Auch die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, legt die Latte hoch. Angesichts der größten Wirtschaftskrise nach der Pandemie, die die EU je erlebt hat, betont sie: "Das Risiko könnte heute nicht größer sein, aber auch die Möglichkeiten. Es steht viel auf dem Spiel." Die Menschen in Europa erwarteten Lösungen, so von der Leyen. "Die ganze Welt beobachtet Europa, ob wir in der Lage sind, gemeinsam aufzustehen und die Corona-bedingte Wirtschaftskrise zu überwinden."

Infografik EU Aufbaufonds Geber Empfänger DE

Heftiges Ringen um die Konjunkturspritze

Unter den 27 Mitgliedsstaaten haben sich verschiedene Lager gebildet, die für ihre Interessen streiten. Die Kunst besteht für die Vermittlerin Angela Merkel nun darin, das äußert komplexe Interessengeflecht zu entwirren. Die sogenannten "Sparsamen Vier", die Niederlande, Schweden, Dänemark und Österreich, stellen die Konstruktion eines Aufbaufonds in Frage. Sie wollen weniger Zuschüsse und dafür mehr rückzahlbare Darlehen an die von Corona gebeutelten Staaten ausgeben.

Die potentiellen Empfänger lehnen das ab. Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte fordert Zuschüsse, weil die Staatsschulden seines Landes nicht weiter steigen dürften. "Der europäische Binnenmarkt muss geschützt werden", sagt Conte und meint, dass alle Länder aus der Krise herauskommen müssen. Denn ohne ein gesundes Italien läuft auch wenig für die Exportindustrie in Österreich oder Deutschland.

Italien benötigt Hilfen aus Brüssel

Die "Freunde der Kohäsion", also Staaten die wie Bulgarien, Rumänien, Polen, Ungarn oder Tschechien, die viel Geld aus Agrar- und Strukturfonds empfangen, wollen Kürzungen zugunsten von südlichen Staaten, die besonders unter Corona leiden, verhindern.

Budapest droht mit Veto

Am Ende muss ein Kompromiss stehen. Das ist allen Teilnehmern klar, denn Haushalt und Aufbaufonds müssen einstimmig verabschiedet werden. Danach muss das Europäische Parlament zustimmen, das auch noch eigene Vorschläge unterbringen will. Wegen der erstmaligen Schuldenaufnahme durch die EU-Kommission ist zusätzlich die Ratifizierung in allen 27 Parlamenten der Mitgliedsstaaten nötig.

	Österreich | Wien | Bundeskanzler Sebastian Kurz
Österreichs Kanzler Kurz hat es nicht eilig: Der Zeitdruck lastet auf der anderen SeiteBild: imago images/Eibner Europa

Da hilft es wenig, wenn ein nationales Parlament, nämlich das ungarische, schon jetzt mit einem Veto droht. Sollte die EU die Verfahren wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit gegen Ungarn nicht einstellen, werde der Haushalt blockiert, warnt das Parlament in Budapest. Der EU-Parlamentspräsident hat für die ungarische Haltung überhaupt kein Verständnis. "Die müssen verstehen, dass die EU kein Geldautomat ist", kritisiert David Sassoli. Als Mitgliedsstaat der EU habe man auch Verpflichtungen. Eine davon sei eine rechtsstaatliche Ordnung.

Erfolgschancen "unter 50 Prozent"

"Wir müssen einfach hart arbeiten", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Auftakt der Sitzung. Der niederländische Ministerpräsident glaubt nicht an einen Durchbruch bei diesem Sondergipfel. "Die Chancen liegen unter 50 Prozent", sagt er. Österreichs Bundeskanzler Kurz meint nur: "Ich habe viel Zeit." Italien, Spanien und andere potentielle Nutznießer des Aufbaufonds wollen hingegen eine schnelle Entscheidung, damit das Geld auch wirklich ab Januar 2021 fließen kann.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union