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Bildergeschichten: Das Leid der Kinder

Tillmann Bendikowski14. Oktober 2013

Wir stellen jede Woche ein Bild vor und erzählen seine Geschichte. Diesmal gehen wir zurück in das Jahr 1955: '"Der Struwwelpeter" kommt in die westdeutschen Kinos

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Der Struwwelpeter Film von 1955 (Foto: picture-alliance/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Links im Bild steht Konrad. Ein Junge, der am Daumen lutscht – und der Mutter nicht glaubt, dass im Wiederholungsfall der Schneider mit der Schere kommt. Doch der Knabe lacht, die Mutter geht, der Schneider erscheint tatsächlich und – "jetzt geht es klipp und klapp!" – schneidet er Konrad die Daumen ab. So geschieht es in einer Geschichte aus dem berühmten "Struwwelpeter". Die Verfilmung dieses Klassikers kommt 1955 in die Kinos. Aber längst sind viele Betrachter wenig angetan von den darin gezeigten grausamen Strafen für den ungezogenen Nachwuchs.

Tatsächlich ist die literarische Vorlage von 1845 eine Beschreibung von anstrengenden Kindern: Da ist vor allem der Struwwelpeter selbst, der bis zur Verwahrlosung Schere und Kamm nicht an sich heran lässt, der Suppen-Kaspar, der die Nahrung so lange verweigert bis er verhungert, oder auch der Zappel-Philipp, der einfach nicht still sitzen kann – und dessen Name heute in den Betrachtungen von hyperaktiven Kindern zitiert wird. Sie alle entstammen der Feder eines Mannes, der zwar gerne dichtete, aber eigentlich als Arzt tätig war: Heinrich Hoffmann (1809-1894).

Die Entstehung des "Struwwelpeter" fällt in die Vorweihnachtszeit 1844: Hoffmann macht sich daran, für seinen Sohn Carl eigenhändig ein Bilderbuch zu schreiben und zu zeichnen. Schon wenige Wochen später überlässt er das Manuskript – wie er selbst zugibt "in heiterer Weinlaune" – einem befreundeten Verleger für wenige Gulden. Doch bald fließt sehr viel mehr Geld. Das Buch wird zum Vorbild für den wirtschaftlichen Erfolg von Kinderliteratur, bis zu Hoffmanns Tod erscheinen 950.000 Exemplare.

In seinem Beruf als Arzt, Psychiater und schließlich Direktor der städtischen Nervenheilanstalt in Frankfurt am Main erlebt Hoffmann viel Unerfreuliches. 1853 schreibt er: "Es gibt unter den zahlreichen Arten menschlichen Elendes keines, welches lauter zum Herzen schreit, als der Jammer des Irrenhauses." Auch Kinder sind unter diesen Ärmsten, für sie richtet Hoffmann als Erster eine besondere Abteilung ein. Wenn er sie besucht, und zuweilen gar keinen Zugang zu ihnen findet, greift er zu Stift und Papier, zeichnet und erzählt. Hoffmann berichtet von seinem Erfolg: "Der wilde Oppositionsmann wird ruhig, die Thränen trocknen, und der Arzt kann spielend seine Pflicht tun." Auf diese Weise entstehen auch zahlreiche Geschichten des "Struwwelpeter". Was uns heute drastisch und brutal erscheint, wirkte also einst beruhigend oder tröstend und schuf Vertrauen zu einem Mann, der mit den Möglichkeiten seiner Zeit Kindern helfen wollte.