Bertolt Brecht: "Gleich nach Goethe"
14. August 2006Schon als Jugendlicher war Bertolt Brecht bar jeder falschen Bescheidenheit davon überzeugt, der zweitgrößte Dichter und Denker des Landes zu werden: "Ich komme gleich nach Goethe", prophezeite er schon als Student seiner damaligen Jugendliebe. Dieser juvenile Größenwahn sollte in die richtige Richtung weisen: Seine Dramen fanden den Weg auf jeden Spielplan, in jedes Schulbuch, ins Fernsehen ohnehin.
Und dennoch: 50 Jahre nach seinem Tod steht er in Deutschland laut einer Studie der Gesellschaft für Erfahrungswissenschaftliche Sozialforschung (Gewis) auf einmal als der große Unbekannte da. Im Auftrag des Magazins "Bücher" wurden über 1000 Frauen und Männer zu Brecht befragt. 42 Prozent unter ihnen gaben an, noch nie etwas von ihm gelesen oder gesehen zu haben. Die überwältigende Mehrheit – 89 Prozent – hatte keinen Schimmer, dass Brecht ein noch heute weltberühmtes Theater gegründet hatte- geschweige denn, welches. "Brecht ist einfach passé", so das lapidare Fazit von "Bücher"-Chefredakteur Konrad Lischka.
"Großer, missratener Sohn"
Woran mag es liegen, dass der große Lehrmeister Brecht von seinen deutschen Schülern nicht mehr gehört werden will? Aufgrund seiner vorbehaltlosen Begeisterung für den Kommunismus wurde er in Deutschland bereits zu Lebzeiten – je nach ideologischem Standpunkt – verehrt oder eben vielmehr verteufelt. Während des Kalten Krieges wurde er von Teilen der westdeutschen literarischen Gesellschaft gar als "Kommunist und Atheist" boykottiert. Zu seiner bayerischen Heimatstadt Augsburg hatte er ohnehin ein recht liebloses Verhältnis: Das Beste dort sei der Zug nach München, wird er zitiert, und stieß damit natürlich nur bedingt auf Gegenliebe. Kurt-Georg Kiesinger bezeichnete ihn einmal gar als "großen, aber missratenen Sohn" der Stadt.
Doch auch auf kommunistischer Seite schloss man den enthusiastischen Genossen keineswegs vorbehaltlos in die Arme: "Für sein episches Theater gab es in Moskau weder Verständnis, noch Interesse", so Brecht-Biograph Reinhold Jaretzky. "Ebensowenig hätte er mit seinen radikalen Ansichten ein sowjetisches Exil überlebt." Brecht hielt – und das wird heute oft vergessen – seinerseits skeptische Distanz zur kommunistischen Macht – auch wenn er dem Projekt Kommunismus stets ein loyaler Anhänger geblieben ist.
Kinderschreck aus Schulbüchern
Doch es wäre zu einfach, Brechts dürftige Popularität ausschließlich in doppelseitigem politischem Querulantentum zu suchen. Ein weiteres Ergebnis der Gewis-Studie lenkt die Ursachenforschung in eine andere Bahn: 55 Prozent der Teilnehmer haben demnach zuletzt in der Schulzeit - als lernplangemäßen Pflichtstoff - ein Stück von Brecht gelesen und ihn offenbar ordentlich verleidet bekommen. Denn seitdem haben die meisten sich nie wieder mit einem seiner Werke beschäftigt. Brecht, der vermeintliche Schülerschreck, zu früh aufgezwungen, falsch vermittelt, für ein Menschenleben verdorben?
"Man sollte aus dieser Studie keine so drastischen Schlüsse ziehen", so Professor Jan Knopf, Leiter der "Arbeitsstelle Bertolt Brecht" der Universität Karlsruhe. Brecht sei eben auf andere Weise bekannt, als Goethe oder Thomas Mann. Seinen Worte seien mittlerweile so selbstverständliche Flügel gewachsen, dass wir Brecht oft zitieren, ohne es zu wissen, Werkfragmenten begegnen, ohne es zu merken. "Erst kommt das Fressen, dann die Moral", "Wer A sagt, muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war", "Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren" - Brecht ist längst anonym geworden.
Weltenruhm für den Geschmähten
Weniger stiefmütterlich wird Brecht dagegen in anderen Teilen der Welt behandelt. Dass alleine zum Brecht-Fest im Berliner Ensemble, Theater am Schiffbauer-Damm, Gastinszenierungen aus Tokio, Barcelona, Budapest, Nizza, Zagreb und Florenz erwartet werden, lässt seine internationale Bedeutung bereits erahnen. Seine Stücke haben die Welt erobert, und zwar zunächst aus einem ganz profanen Grund: "Sie sind schlicht und einfach sehr unaufwendig in Bühnenbild und Kostüm, dadurch mobil und überall aufzuführen", so Professor Knopf weiter. "Eigentlich braucht man noch nicht einmal eine Bühne."
Zudem sei Brecht überall da im kommen, wo die von ihm angesprochenen Themen – soziale und politische Ungerechtigkeit, Gewalt, bürgerliche Heuchelei - relevant sind: Länder im Umbruch, Länder der Armut, Länder der Dritten Welt. "Seine Werke und Theorien hatten zum Beispiel in Südafrika einen mächtigen Erfolg", so Professor Stephen Brockmann, Herausgeber des Brecht-Jahrbuches der Carnegie-Mellon Universität in Pittsburgh. Aber auch in Peru, Chile und vielen osteuropäischen Ländern werde Brecht derzeit mehr gewürdigt, als in seiner Heimat. "Sein Einfluss auf das politische Theater in Brasilien ist ebenfalls nicht hoch genug einzuschätzen."
Vom Revoluzzer nicht mehr angesprochen
Die Gründe dafür liegen laut Brockmann auf der Hand: In Gesellschaften, die sich zum jetzigen Zeitpunkt im Wandel befinden, oder gerade einen herbeisehnen, treffe Brecht mit seinen revolutionären politischen Aussagen und ästhetischen Techniken den Nerv der Zeit. So seien seine Werke im Deutschland der 68er Folgejahre noch erheblich öfter inszeniert worden, als heute. In der letzten Werkstatistik des Bühnenvereins (Spielzeit 2003/2004) taucht jedenfalls kein Brecht-Stück mehr unter den Top 20 der meistinszenierten Dramen auf, für die demnächst veröffentlichte Statistik 2004/2005 wird ebenfalls kein Revival prognostiziert.
Die gemütlichen westlichen Wohlstandsgesellschaften fühlen sich heute von Brecht offensichtlich nicht mehr angesprochen. Ungeachtet dessen gilt er für Professor Brockmann "ohne jeden Zweifel als der einflussreichste und wichtigste Dramatiker des 20. Jahrhunderts – weltweit". Ein wenig Sühne für seine Ignoranz leistet nun aber auch das undankbare deutsche Publikum: Zwei Tage vor dem 50. Todestag Brechts begann am Freitag (11.8.2006) das Brecht-Ehrenfest in Berlin. "Damit Ihr wenigstens in der Oper seht, wie einmal Gnade vor Recht ergeht."