Deutsches China-Öl in Taiwan
6. November 2012Wenn Novia Chiu sich für die Arbeit zurecht macht, schlüpft sie in ein grün-weißes Dirndl, mit dem sie auch auf dem Oktoberfest eine gute Figur abgeben würde. In ihrem Laden im Zentrum von Taipeh angekommen, berät die junge Taiwanerin Kunden vor einem schwarz-rot-goldenen Logo und hantiert mit Waren, die ausnahmslos deutsche Beschriftungen tragen. Kein Wunder, dass manche sie für eine Expertin halten. "Wenn Kunden mich fragen, wohin sie in Deutschland in Urlaub fahren sollen, kann ich aber nur sagen: Tut mir leid, ich war noch nie dort." Wichtiger ist, dass sie sich mit den Schachteln, Fläschchen und Tiegeln in den Regalen auskennt. Im "Reformhaus Germany" verkauft sie ihren taiwanischen Landsleuten ausschließlich Gesundheitsprodukte und Nahrungsergänzungsmittel Made in Germany.
Das China-Öl kommt aus Berlin
Die Geschichte von Taiwans "Reformhäusern" begann in Bayern. Mitte der neunziger Jahre besuchte Wu Ching-Yun, der in Taiwan bereits Geleé Royale aus der Schweiz verkaufte, eine Münchner Messe für Medizinprodukte. Er stieß auf einen Stand mit einem Produkt, dessen Name ihn sofort neugierig machte: China-Öl. Das pure Pfefferminzöl stammt trotz seines asiatischen Namens von einem Hersteller in Berlin.
"Der Chef dieses Unternehmens hatte die Zubereitung bei einem Besuch in Peking kennen gelernt und die Idee mit nach Deutschland genommen", erzählt Wu. Der gelernte Apotheker aus Taiwan erkannte, dass seine Landsleute Interesse haben könnten an Naturprodukten aus Deutschland – und brachte das Produkt wieder zurück in den fernen Osten. In seiner Werbung betont er die deutsche Herkunft und die Verträglichkeit: "Man kann das Öl auf die Haut reiben, die Dämpfe inhalieren, aber man kann es auch mit heißem Wasser trinken." Für Taiwaner sei das überraschend.
Deutschland steht für Qualität
Mit dem intensiven Pfefferminzduft witterte Wu seine Geschäftschance und sicherte sich die Vertriebsrechte für Taiwan. "Ich fahre auch oft auf Messen nach Japan und in die USA, aber in Deutschland ist die Qualität am besten", sagt der 61-Jährige. "Die deutsche Art, sich gesund zu halten, wollen wir in Taiwan bekannt machen und den Verbrauchern die Bedeutung von Natürlichkeit und Umweltschutz bewusst machen."
Am Anfang lief der Absatz eher schleppend: "Zuerst verkaufte das Öl sich gar nicht, weil die Leute dachten, es kommt wirklich aus China." Also änderte Wu die chinesische Bezeichnung von "China-Öl" in "Deutsches Bailing-Öl", was so viel bedeutet wie Allzweck- oder Wundermittel. Seitdem steigen die Verkaufszahlen von Jahr zu Jahr. Mehr als eine halbe Million Flaschen habe man seit dem Jahr 2000 nach Taiwan geliefert, sagt der Hersteller Bio Diät Berlin. Damit sei die Insel einer der bedeutendsten Auslandsmärkte.
Höhere Preise als in der Heimat
In Taiwan finden sich die charakteristischen blau-gelben Schachteln nicht nur in Wus mittlerweile 16 Reformhaus Germany-Filialen. Sie stehen auch im 5-ml-Miniformat an der Kasse der allgegenwärtigen 7-Eleven-Supermärkte. Dort kosten sie 280 Taiwan-Dollar, umgerechnet mehr als sieben Euro. In Deutschland erhält man dafür die fünffache Menge. Auch in Wus glänzend weiß eingerichteten Läden lösen die Preise bei deutschen Kunden Staunen aus. Ob Em-Eukal-Bonbons, Doppelherz-Pillen oder Teebaumöl-Shampoo – die Produkte kosten stets ein Vielfaches dessen, was sie aus der Heimat gewohnt sind. In Taiwans zahlungskräftiger Mittelschicht gibt es offenbar genug Kunden, die solche Preise akzeptieren. "Deutsche Produkte haben einfach den besten Ruf in Taiwan", sagt Wu. "Ob bei Autos oder Nahrungsmitteln, da ist Qualität garantiert." Außerdem trieben Steuern, Transport- und Personalkosten die Preise in die Höhe.
Zu großzügig kalkulieren darf Wu aber nicht, denn es hat sich herumgesprochen, dass das begehrte China-Öl in Deutschland günstiger zu haben ist. Wer nach Deutschland reist, wird oft verdonnert, für die ganze Familie einzukaufen. Wu hat mit eigenen Augen gesehen, wie Taiwaner und auch Chinesen aus der Volksrepublik, die wohl seine Fernsehwerbung gesehen hatten, sich in Deutschland eindecken. "Ein Taiwaner hat angeblich mal 500 Flaschen mitgebracht", sagt er. "Das ist wirklich ein Problem für uns." Aber er kann darüber lachen. Wegen solcher Grauimporte müssen Novia Chiu und die anderen Dirndl-tragenden Verkäuferinnen sich wohl keine Sorgen um ihren Arbeitsplatz machen.