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Transkript: 54. Was ist Ableismus?

22. September 2022

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: Leistung als Merkmal, abwertende Sprache, Mitleid und Bewunderung, Bevormundung und Diskriminierung. Das ist Ableismus.

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Zum Podcast geht es hier.

Jingle: DW. "Echt behindert!"

Moderator, Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus. Die Wort Endung "-ismus" kann viel bedeuten. Sie stammt aus einem altgriechischen Wort, was in etwa so viel heißt wie "auf eine bestimmte Art handeln". Sozialismus, Feminismus, Rassismus: oft geht es darum, eine Theorie zu finden, die die Welt beschreibt. Natürlich gibt es noch verschiedene andere "-ismen" von Krankheiten bis Kunstrichtungen. Die sollen uns heute aber mal egal sein.

In "Echt behindert!" geht es heute um "Ableismus". Ein eher neues Wort, das sich aus der Welt der Disability Studies inzwischen in den Mainstream verbreitet hat.

Mit mir im Podcast ist Andrea Schöne. Sie ist Journalistin und Autorin und hat gerade ein Buch zum Thema Ableismus geschrieben, das in Kürze erscheinen wird.

Schönen guten Tag, Frau Schöne.

Andrea Schöne: Hallo.

Matthias Klaus: Können Sie, und Sie haben es ja für das Buch getan, Ableismus definieren?

Andrea Schöne: Ja, das ist tatsächlich auch gar nicht so einfach, Ableismus zu definieren, weil es keine allgemeingültige, sag ich mal, Definition von Ableismus gibt. Deshalb ist das jetzt meine eigene. Die kann auch jederzeit noch ergänzt werden. Ableismus stellt ein geschlossenes Denk- und Wertesystem dar. Das äußert sich mit Zuschreibungen in Sprache, Lebensweisen, in der Arbeitswelt, im Bildungswesen, in jedem Lebensbereich, in dem Sinne auch in Gesetzestexten natürlich, und äußert sich in positiven wie negativen Zuschreibungen einer Person. Ein wichtiger Bestandteil dabei ist, die Leistungsfähigkeit eines Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, also Menschen und den Wert eines Menschen über Leistungsfähigkeit zu definieren.

Matthias Klaus: Im Sinne von "being able" - etwas können.

Andrea Schöne: Genau. "able" ist ja das englische Wort für "fähig/fähig sein". Das heißt natürlich auch, "Leistungsfähigkeit und Bezug auf Fähigkeiten" zu sehen. Da müssen wir jetzt noch gar nicht über Fähigkeiten wie kann ich ein Buch schreiben? oder solche Dinge oder besonders gut singen oder keine Ahnung irgendwas anderes gut machen, sondern ganz essentielle Fähigkeiten. Allein das ist schon ein Ausdruck, den ich diskutieren könnte, ob sie auch wirklich essenziell sind, die Fähigkeiten, also Fähigkeiten wie sehen, hören, gehen können. Solche Dinge werden in den Mittelpunkt gestellt und als essenziell wahrgenommen. Und dass Menschen Dinge nicht anders machen können. Das wird als eine Norm definiert: sehen zu können, hören zu können, gehen zu können. Verschiedenste andere Dinge in der Wahrnehmung natürlich auch. Das sind wichtige Bestandteile von Ableismus.

Matthias Klaus: Ableismus ist ja ein relativ neues Wort. Ich habe das vor vier Jahren vielleicht zum ersten Mal gelesen. Eigentlich klang mir das sehr akademisch. Wie ist denn dieses Wort entstanden? Woher kommt es?

Andrea Schöne: Das Wort "Ableismus", es klingt ja auch schon sehr englisch, kommt aus dem englischsprachigen Raum, also aus den USA und dem Vereinigten Königreich, UK. Es ist entstanden aus der benannten Behindertenbewegung im angloamerikanischen Raum und das war so Anfang der 1980er Jahre und geht zurück auf das soziale Modell von Behinderung, das soziale Modell von Behinderung als Teil der Disability Studies und sagt, dass Barrieren in der Umwelt behinderte Menschen daran hindern, ein gleichberechtigtes Leben führen zu können und nicht die Behinderung selbst das Problem ist, sozusagen. Und daraus haben sich dann auch verschiedenste Definitionen und auch Erklärungen und Beschreibungen von ableistischen Phänomenen entwickelt.

Im deutschsprachigen Raum ist es dagegen noch sehr, sehr unbekannt. Ich nehme die ersten Diskussionen innerhalb der aktivistischen Szene seit ungefähr zwei Jahren wahr. Auch zu diesem Zeitraum habe ich das erste Mal tatsächlich das Wort Ableismus gelesen und mich dann auch selbst eingearbeitet: Was bedeutet das? Was hat das auch mit mir als behinderte Person zu tun und auch mit meiner eigenen Arbeitswelt? Denn ich habe davor schon Workshops gegeben: "Wie kann man besser über Menschen mit Behinderung sprechen und schreiben im Inhalt des Journalismus?" Und da ist natürlich Ableismus dann ganz wichtig als System zu erklären, woher diese Wörter denn eigentlich kommen, die behinderten Menschen, bestimmte denkwürdige, sage ich mal, Fähigkeiten oder Beschreibungen geben.

Matthias Klaus: Ich bin doppelt so alt wie Sie. Wir sagten damals in unserer jugendlichen Zeit "Behindertenfeindlichkeit". Das ist ja ein Unterschied, wenn ich das richtig verstehe. Lässt sich das mal irgendwie beschreiben? Warum reicht das Wort "Behindertenfeindlichkeit" nicht mehr aus, um das alles zu beschreiben, worum es hier geht?

Andrea Schöne: Ich bin tatsächlich auch mit dem Wort "Behindertenfeindlichkeit" aufgewachsen und das ist auch das Wort, das als Synonym nach wie vor für Ableismus genutzt wird. So in der Umgangssprache, weil viele Menschen immer noch nicht wissen, was Ableismus bedeutet und denen auch damit gar nicht klar ist, dass Behindertenfeindlichkeit ein Teil des ableistischen Systems sozusagen darstellt. Denn Behindertenfeindlichkeit, wie schon in einem Wort inbegriffen, bedeutet, dass das Verhalten gegenüber behinderten Menschen feindlich ist, also aggressiv und so weiter und sich mit körperlicher Gewalt oder auch psychischer, emotionaler in jeder Weise äußern kann. Das ist aber tatsächlich bei Ableismus nicht immer der Fall. Es kann zum Beispiel auch positive Bemerkungen geben, die aber nicht so positiv sind. Das ist mir als junger Erwachsener - mit Anfang 20 bin ich sehr viel auf Musikfestivals gegangen - passiert, dass Leute auf mich zukamen : "Oh, es ist ja so toll, dass du auch da bist, trotz deiner Behinderung." Naja, dieses Kompliment ist halt nicht wirklich ein Kompliment, weil die Leute mir sagen wollen, eigentlich gehen behinderte Menschen nicht auf Musikfestivals. Warum sollten sie da aber nicht hingehen? Das zeigt, dass nichtbehinderte Menschen zum einen sehr wenig Kontakt mit behinderten Menschen haben, was auch eine Folge des ableistischen Systems ist, in dem wir leben. Es zeigt aber auch, dass sie die Annahme haben, alles Mögliche über die Lebenswelten behinderter Menschen zu wissen, obwohl es gar nicht so aussieht und auch damit eine Deutungshoheit über die Lebensweisen und Lebenswelten behinderter Menschen für sich beanspruchen, die sie auch nicht haben.

Matthias Klaus: Nehmen wir mal Beispiele: ableistisches Verhalten oder Ableismus im Alltag. Sie haben eine Behinderung, ich habe eine Behinderung. Wir kennen das alle sehr gut und erleben relativ viel. Haben Sie mal ein paar Beispiele? Sie schreiben ja in Ihrem Buch auch immer mal wieder von sich selbst.

Andrea Schöne: Ja, ich habe sehr viele Beispiele. Ein Punkt ist die Infrastruktur, dass es überall Treppenstufen gibt und Aufzüge erst nachträglich irgendwo angebracht wurden. Ich komme aus Süddeutschland und das fällt mir insbesondere in München auf, wenn Leute dort bei der U-Bahn die Treppen nutzen und andere den Aufzug, kommen alle in komplett verschiedenen Straßen tatsächlich raus. Das ist ziemlich absurd auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick wiederum nicht, weil es zeigt, dass Aufzüge erst wesentlich später bei den U-Bahnen angebracht wurden und als ein "Extra" gesehen werden, was sie aber nicht sein sollten, denn gehbehinderte Menschen gibt es überall. Es ist auch eine Behinderung, die wohlgemerkt auch jeder nichtbehinderte Mensch erwerben kann. Auch kurzzeitig. Ich meine, ich kann mir ein Bein brechen und dann nicht laufen können. Die Treppe, ja, was machen die Leute dann? Das ist allein in dem Fall schon ziemlich absurd, dass es nie mitgedacht wurde oder als Norm vorausgesetzt wurde, dass die Mobilität von Menschen verschieden sein kann.

Ein anderer Punkt ist das Schulsystem. Da wird ja seit mehr als zehn Jahren ganz stark das Thema inklusive Schule in Deutschland diskutiert. Wenn ich da zum Beispiel an meine Freund*innen in Italien denke, die sind da immer sehr verwundert, wenn ich erzähle, wie meine Schulzeit in Deutschland abgelaufen ist, nämlich dass ich eine der wenigen war zu meiner Zeit, insbesondere als ich eingeschult wurde im Jahr 2000 war inklusive Schule noch überhaupt kein Thema, dass ich eine der wenigen mit Behinderung war in diesem Zeitraum, die überhaupt eine Regelschule besucht hat. Also in Italien zum Beispiel gibt es fast gar keine Behindertenschulen mehr und für die ist es normal, dass behinderte und nichtbehinderte Kinder zusammen in die Schule gehen. Das zeigt, dass ableistische Systeme auch verschieden sind. Wenn man etwas genauer im italienischen Schulsystem nachschaut, gibt es dann schon wieder bestimmte Zuschreibungen. Aber es gehen immerhin schon mal alle überhaupt in das gleiche Schulhaus und wissen, dass die andere Person überhaupt existiert. Das ist ein ganz großes Thema in Deutschland, finde ich, weil sich so behinderte und nichtbehinderte Menschen erst gar nicht von Kindesbeinen an begegnen und komplett andere Lebenswege gehen, wenn sie sich nicht begegnen und auch gar nicht merken, dass vielleicht auch eine Lebenswelt ganz anders aussehen könnte.

Ein anderer Punkt ist natürlich auch Sprache. Es gibt ableistische Wörter, die sind so etabliert, dass sie gar nicht mehr auffallen, dass sie überhaupt ableistisch sind. Es sind Wörter wie zum Beispiel "Idiot*in, dumm und so weiter", die genutzt werden, um Menschen abzuwerten, zu beleidigen, die aber ableistisch sind. Es muss immer bedacht werden, dass gerade das Wort "Idiot*in" sehr perfide ist, weil es jetzt während der Pandemie unter COVIDiot genutzt wurde als Hashtag, um Menschen, die in der Pandemie sehr egoistisch und unvernünftig sind und waren, herabzusetzen und zu beleidigen. Gleichzeitig wird aber vergessen, dass das Wort "Idiot" und "Idiotie" als Diagnose bis in die 1960er und 70er Jahre medizinisch genutzt wurde und in der NS Zeit Menschen mit Behinderungen, insbesondere mit kognitiven Behinderungen unter dieser Diagnose "in Anführungsstrichen" – das ist immer in Anführungsstrichen zu sehen - ermordet wurden unter den eugenischen NS Behinderten- und Krankenmorden. Und das wissen viele Leute leider nach wie vor nicht. Zeigt aber auch, wie stark etabliert solche Sprachbilder in der Alltagssprache sind.

Matthias Klaus: Da habe ich ein schönes Beispiel. Ich habe einen News Alert laufen bei Google, also wo ich Zeitungsartikel pro Tag gezeigt bekomme, wo bestimmte Wörter drin vorkommen. Eins davon heißt "Blindheit". Das mache ich, um informiert zu sein, was mich und meine Selbsthilfesysteme angeht. Sagen wir mal, 65 Prozent der Artikel, die da aufschlagen, handeln nicht von Blindheit. Die handeln von "Er war zu blind um zu sehen, was Putin für ein schlechter Mensch ist!" oder "Das juristische System ist mit Blindheit geschlagen!" Und es geht immer um Ignoranz, um Unverständnis, um ‘keine Ahnung haben‘. Und natürlich, wenn man da so ein bisschen drüber nachdenkt, dann kommt man auch dahin. Wenn man sich selber jetzt als blind bezeichnet oder andere einen so sehen, dass die natürlich dieses ganze Berieseln von Ignoranz und ‘keine Ahnung haben‘ irgendwann auf die Blinden projizieren. Und dann haben wir den Salat. So passiert das. Und leider ist da zum Beispiel das Bewusstsein auch innerhalb der Blindencommunity überhaupt noch nicht so richtig hoch. Viele sagen auch: "Ach, was soll das nur, regt euch doch nicht über all den Quatsch auf!" Da komme ich jetzt direkt zu einer Frage. Ableismus ist ja etwas, was man so gesehen überall finden kann, denn Leistungsgesellschaft ist ja auch überall. Gibt es denn in unserer Gesellschaft, die ja kein Paradies ist, wo jeder gefragt wird, was er denn so braucht, gibt es denn da überhaupt eine Möglichkeit, dem Ableismus zu entrinnen? Ist das nicht sowieso überall und beschreibt einfach nur die Gesellschaft, wie sie ist?

Andrea Schöne: Ich würde sagen, Ableismus betrifft auf jeden Fall alle Menschen, nichtbehinderte und behinderte Menschen gleichermaßen, weil es eine Lebenswelt ist, die in verschiedenem Maße alle Menschen betrifft. Ich bin in meinem Buch auch darauf eingegangen, dass zum Beispiel die Leistungsgesellschaft immer mehr Burnout hervorruft, habe es glaube ich sogar selbst als "Burnout-Gesellschaft" bezeichnet, was auch nichtbehinderte Menschen trifft, dass immer mehr Leistungsfähigkeit erwartet wird.

Matthias Klaus: Das wäre dann auch Ableismus.

Andrea Schöne: Genau. Das betrifft ja auch nichtbehinderte Menschen, also viel mehr Leistungsfähigkeit prinzipiell von Menschen zu erwarten als einfach möglich ist. Das kann man jetzt auch auf verschiedene andere Dinge beziehen, zum Beispiel auf den Klimawandel. Vielleicht haben wir die Erde auch irgendwie überfordert, immer mehr Leistungsbereitschaft erwartet und eine Fähigkeit, die einfach nicht da ist. Alle Menschen haben in gewissem Maße auch irgendwo einfach mal eine Grenze erreicht. Wir können nicht 24 Stunden am Tag alle arbeiten, ganz egal ob behindert oder nichtbehindert, jetzt mal so gesehen. Es gibt ja sehr menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse, prinzipiell gesehen. Es ist aber auch ein wichtiger Punkt, dass natürlich behinderte Menschen noch viel mehr davon betroffen sind strukturell durch Sprachbilder, wie wir schon beide jetzt angesprochen haben und auch im medizinischen Bereich, was jetzt nichtbehinderte Menschen wiederum nicht trifft. Die Intensität ist durchaus unterschiedlich, würde ich sagen. Es kann aber natürlich auch sein, dass ein nichtbehinderter Mensch auch eine Behinderung erwirbt, zum Beispiel einen Burnout. Das ist ja auch eine Behinderung. Zumindest wird diskutiert, ob es als eine Behinderung auch wahrgenommen werden sollte oder sich bestimmte Leistungen dann auf Menschen beziehen können. Ich habe darüber auch schon einiges gelesen. Und in dem Sinne sollten sich natürlich auch alle hinterfragen: Was bringt uns eigentlich dieses Denken, uns über Leistungsfähigkeit zu definieren, wenn es die Menschen schlicht und ergreifend zerstört und zwar alle Menschen?

Matthias Klaus: Sie schreiben in Ihrem Buch ja auch, dass Ableismus so allgemein verbreitet ist, dass man ihn manchmal gar nicht erkennt sondern für normal hält, um mal dieses schwierige Wort zu benutzen. Also die Gesellschaft ist halt so, wie sie ist. Und wenn ich mir angucke, dass zum Beispiel, wenn eine Firma Mitarbeitende sucht, dann suchen die ja nicht jemanden ...: ‘Hey, hier bewirbt sich jemand mit Behinderung, wollen wir doch mal gucken, ob wir was Passendes für den haben?‘, sondern die suchen einen mit bestimmten Leistungsmerkmalen. Der und der Mensch muss das und das können. Da passen viele behinderte Menschen dann ja eventuell gar nicht rein. Auf die Weise haben die dann überhaupt keine Chance, in ganz normalen Bewerbungsprozessen überhaupt einen Job zu bekommen, solange das so läuft. Ist es nicht eine große Illusion, dann immer zu sagen: Okay, alles Ableismus! Wie können wir denn diesen Begriff so verwenden, dass der uns nicht nur runterzieht? Weil wenn ich da so gucke, wo überall Ableismus ist, das ist ja doch eine Menge, da könnte ich ja auch mal verzweifeln dran.

Andrea Schöne: Ich verstehe den Hintergrund. Das ist auch tatsächlich persönlich nicht immer einfach, sich manchmal über Dinge nicht aufzuregen, einfach um sich selbst den Tag nicht zu vermiesen, sage ich mal. Gerade Busfahren ist für mich mit Körperbehinderung sehr anstrengend, weil grundsätzlich die Leute nicht aufstehen von den reservierten Plätzen für gehbehinderte Menschen. Zumindest bei mir gibt es das, da ist sogar ein riesiges Schild angebracht. Grundsätzlich steht niemand auf. Und es gibt natürlich auch unsichtbare Behinderungen. Das ist auch immer schwierig einzuschätzen. Aber die Leute sind einfach in dem Fall ignorant, die dort saßen. Das war denen auch richtig anzusehen, dass das definitiv nur Ignoranz war und kein anderer Hintergrund. Oder wenn sich Menschen in die Lücke für Rollstuhlfahrer*innen, stellen und nicht aufstehen, obwohl sie sehen, dass ich gerade die Rampe hochfahre. Es wäre ja eigentlich so einfach, dann aufzustehen und sich einen anderen Platz zu suchen. Aber nein, da muss ich dann extra noch mal fragen. Das sind so Dinge, die sind sehr mühsam, sage ich mal, vor allem wenn sie sich jeden Tag aufs Neue wiederholen. In diesem Fall bringt es aber mir persönlich als Mensch nichts, wenn ich jedes mir das selbst zu sehr zu Herzen nehme, weil ich mir einfach die eigenen Ressourcen verschwende in dem Sinne, dass ich in dieser Situation nicht den Eingriff habe.

Ich werde jetzt nicht innerhalb eines Tages die Leute innerhalb einer Stadt davon überzeugen, diesen Platz nicht mehr voll zu stellen, mit Koffern, auch in Zügen zum Beispiel oder im Bus einfach nicht Platz zu machen. Da ist es manchmal zumindest für mich persönlich selbst besser, nicht mehr darüber nachzudenken. Also mich nicht den ganzen Tag darüber aufzuregen. Das ist als persönliche Strategie wichtig. Ich nehme es wahr. Wahrscheinlich habe ich das auch in gewissen Dingen internalisiert, allerdings aus Selbstschutz, weil ich sonst halt einfach gar nichts mehr machen könnte, ohne Ableismus irgendwo wahrzunehmen. Und das macht mir aber nicht das Leben an sich besser. Deshalb treffe ich die Entscheidung, über welche Dinge rege ich mich auf und über welche nicht? Wo habe ich die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen und wo nicht?

Matthias Klaus: Sie haben gerade "internalisiert" gesagt. Schönes Stichwort. "Internalisierter Ableismus" ist etwas, was viele von uns betrifft, sage ich mal vorsichtig. Können Sie ein bisschen beschreiben, was ist internalisierte Ableismus? Bin ich jetzt auch noch selbst schuld?

Andrea Schöne: Na ja, internalisierter Ableismus bedeutet, dass auch behinderte Menschen, ableistische Ansichten, Sprache, Lebensweisen, Einstellungen oder auch Bilder, wie behinderte Menschen zu sein haben, verinnerlicht haben. Das zeigt sich in verschiedener Weise. Zum einen, wenn wir schon mal beim Punkt Leistungsfähigkeit sind, wo wir jetzt viel darüber gesprochen haben, dass behinderte Menschen besonders dann versuchen, noch mehr Leistung zu bringen als nichtbehinderte Menschen, um sich selbst und Nichtbehinderten zu beweisen: Ich bin genauso leistungsfähig wie ein nichtbehinderter Mensch. Früher oder später geht es dann aber nach hinten los, entweder weil die Leute dann einen Burnout bekommen, das bekomme ich auch immer mehr in der Community selbst mit. Das wird jetzt gerade immer mehr ein Thema, auch unter sehr erfolgreichen behinderten Menschen, dass viele sagen: ‘Hm, ja, ob sich das jetzt in jedem Punkt so gelohnt hat, dem nachzueifern, wie ein nichtbehinderter Mensch zu leben, also dieselbe Leistung in jedem Punkt zu bringen, obwohl der eigene Körper und die Ressourcen es einfach nicht hergeben.‘ Ob das wirklich so sinnvoll ist und war, ist auch immer wieder eine eigene Reflexionssache dahinter, finde ich. Auch natürlich bei mir selbst. Also ich reflektiere mich da auch. Es ist zum anderen aber auch Scham, Scham nach Hilfe zu fragen. Scham, auch Hilfe anzunehmen, wenn sie wirklich nötig ist, dass man zum Beispiel sehr verbissen versucht, bestimmte Dinge zu machen.

Für mich wäre das zum Beispiel: Vor meiner Fakultät ist ein ganz steiler Hügel und ich nutze ein Dreirad wie einen Rollstuhl. Und ich bin da jetzt bisher immer mit ganz viel Anstrengung den Hügel ganz alleine hochgefahren mit meinem Rad. Inzwischen denke ich mir aber: Muss ich das jetzt wirklich machen? Wenn jemand mir Hilfe anbietet und ich dann meine körperlichen Ressourcen an dem Tag vielleicht für was anderes verwenden kann, hat sich das vermutlich für mich dann doch mehr gelohnt. Auch wenn es mich ärgert, dass ich an diesem Punkt Hilfe brauche, kann es vielleicht für mich einen Nutzen haben, die Hilfe an dem Punkt dann mal doch anzunehmen.

Ein anderer Punkt ist auch, sich selbst als Belastung wahrzunehmen. Das ist natürlich in dem Punkt mit dem Helfen auch so ein wichtiger Punkt. Viele fragen auch nicht nach Hilfe, wenn sie sie eigentlich bräuchten. Das betrifft durchaus auch mich, wie mit dem Hügel vor meiner Fakultät, wovon ich gerade gesprochen habe, weil man selbst nicht als Belastung wahrgenommen werden möchte. Das ist einfach auch so ein Punkt.

Matthias Klaus: Ich stimme jetzt hier intern in meinem Kopf die ganze Zeit zu. Also ich kenne das alles und zwar sehr gut und zwar sich selbst als Belastung empfinden kenne ich sehr gut. Ich kenne es auch sehr gut zu stolz zu sein, um Hilfe anzunehmen, um den anderen nicht zu zeigen, dass man das, was sie sich so als normal vorstellen, in dem Moment vielleicht nicht leisten kann oder nicht leisten will, das ist dann noch abstrakter. Ich hätte noch ein kleines Beispiel, da würde ich Sie jetzt gerne mal fragen: Ist das für Sie internalisierter Ableismus? Wenn ich als blinder Mensch mit Augen, die sagen wir mal ästhetisch nicht besonders schön sind, eine Brille aufsetze, um das zu verstecken. Also, ich tue das. Ist das internalisierter Ableismus? Ja oder nein? Und wenn, ist es gut oder schlecht? Haben Sie dazu eine Idee?

Andrea Schöne: Hm. Das ist für mich jetzt natürlich auch schwierig, denn ich bin sehend. Ich bin zwar kurzsichtig, ich trage eine Brille, sodass ich besser sehen kann. Ohne Brille käme ich jetzt gerade noch durch meine Wohnung, aber ansonsten wird es dann auch schon schwierig. Deshalb ist es für mich ein bisschen schwer zu beurteilen, weil ich die eigene Erfahrung natürlich nicht mache. Ja und nein. Vielleicht kommt es auch auf die Situation drauf an. Zu merken vielleicht oder das Gefühl zu haben, von anderen Leuten angestarrt zu werden, ist nie schön. Ich bin kleinwüchsig, das kenne ich sehr gut. Das habe ich erst vor zwei, drei Tagen wieder erlebt, wie Kinder 15 Minuten vor mir in einem Restaurant diskutiert haben, ob ich jetzt eine erwachsene Frau bin oder nicht. Und ich war ein bisschen wütend in dem Moment und habe dann nicht reagiert, weil ich jetzt gerade in Italien bin und die Kinder auf Italienisch diskutiert haben. Ich habe alles verstanden, aber gerade war mein Italienisch nicht gut genug, um etwas schlagfertig Kontra geben zu können und um etwas zu sagen und deshalb habe ich es einfach ignoriert. Es ist auch so eine Situation, wo ich dann sage: Ja, manchmal ist es vielleicht für sich selbst besser, es dann sein zu lassen, weil man sich sonst noch mehr ärgert, noch mehr Reaktionen hervorzurufen.

Um jetzt auf die Brille zurückzukommen: Ich glaube, es kommt einfach auf die Situation drauf an. Jede Person sollte auch für sich selbst entscheiden können, ob ich mich jetzt damit wohlfühle oder nicht, also bestimmte Dinge zu machen. Angenommen, ich sitze jetzt im Bus, ich bin blind und ich trage diese Brille nicht. Und ich habe das Gefühl, die ganze Zeit starren mich Leute an und das würde mich den ganzen Tag beschäftigen. Dann nutze ich ja dann in dem Punkt auch mehr Ressourcen, mir darüber Gedanken zu machen, als wenn ich die Brille aufsetze und selbst sage: Okay, jetzt fühle ich mich nicht so angestarrt.

Matthias Klaus: Sie hören "Echt behindert!" den Podcast zu Inklusion und Barrierefreiheit der Deutschen Welle. Heute bei mir zu Gast ist Andrea Schöne. Sie hat gerade ein Buch zum Thema Ableismus geschrieben.

In diesem Buch Frau Schöne, gibt es auch am Ende so ein Paar, ich nenne es mal "Ratgeberanteile". Da gibt es zum Beispiel: Wie spreche ich mit behinderten Menschen oder wie finde ich Verbündete? Was hat Sie dazu gebracht, das in dieses Buch mit aufzunehmen? Das ist ja erst mal nicht unbedingt das Thema Ableismus.

Andrea Schöne: Das hat mich vor allem dazu bewegt, weil ich mit Ableismus schreibe, wie nichtbehinderte Menschen zum Großteil mit behinderten Menschen diskriminierend umgehen und ich jetzt nicht, wenn nichtbehinderte Menschen das Buch lesen oder auch behinderte Menschen, wenn sie ihren eigenen Ableismus auch gegenüber Menschen mit anderer Behinderung reflektieren. Es ist ja nicht so, dass ich mich nicht ableistisch gegenüber Menschen mit einer anderen Behinderung zum Beispiel verhalten könnte, weil ich die Lebenswelt eben auch nicht kenne. Da möchte ich keine Person einfach so stehen lassen: Okay, du bist jetzt böse, reflektiere das mal, sondern auch ein bisschen eine Anleitung geben, wie könnte so eine Reflexion dann auch aussehen und wie kann sich auch jede Person in einer bestimmten Weise einbringen? Der Leitfaden ist jetzt wohlgemerkt auch nicht allgemeingültig zu sehen, sondern eine, sage ich mal, Denkstütze sozusagen und kann auch jederzeit erweitert werden. Und allgemeingültig ist es natürlich auch nicht in dem Sinne, weil behinderte Menschen verschieden sind. Diskussionen gehen ja auch weiter und auch aktivistische Diskussionen. Deshalb habe ich da jetzt mal ein bisschen einen Grundquerschnitt sozusagen angesprochen.

Matthias Klaus: Frau Schöne, können Sie vielleicht noch mal genau den Titel des Buches sagen, falls Menschen, die das hier hören, es lesen wollen und bestellen können? Wir werden das natürlich auch alles in den Shownotes verlinken, aber wie ist genau der Titel?

Andrea Schöne: Mein Buch heißt "Behinderung und Ableismus" und erscheint im Unrast Verlag im Oktober 2022.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" für heute. Bei mir zu Gast war Andrea Schöne, die gerade ein Buch zum Thema Ableismus geschrieben hat. Ich hoffe, wir konnten ein bisschen klären, was sich hinter diesem Begriff, der manchmal etwas kompliziert daherkommt, verbirgt. Es ist doch eine Menge Alltag drin und viel zu erkennen, wie die Verhältnisse von Behinderung zu Nicht-Behinderung in der Gesellschaft funktionieren.

Frau Schöne, ich danke Ihnen sehr herzlich, dass Sie Zeit für uns hatten.

Andrea Schöne: Ich bedanke mich für die Einladung und habe mich sehr über das Gespräch gefreut.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!". Mein Name ist Matthias Klaus.

Sprecher: Mehr folgen unter dw.com/echtbehindert.

Hier geht es zum Buch:

https://unrast-verlag.de/index.php/marke/andrea-sch%C3%B6ne

und hier bei Amazon:

https://www.amazon.de/Behinderung-Ableismus-unrast-transparent-linker/dp/3897711524

Dieses Transkript wurde zum Zwecke der Barrierefreiheit unter Nutzung einer Spracherkennungs-Software erstellt und danach auf offensichtliche Fehler hin korrigiert. Es erfüllt nicht unsere Ansprüche an ein vollständig redigiertes Interview. Wir danken für das Verständnis.