1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Transkript des Podcasts: Echt behindert! Folge 1

25. November 2020

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung. In Folge 1 geht es um Bewunderung, und warum die manchen behinderten Menschen auf die Nerven geht.

https://p.dw.com/p/3l986

Zum Podcast geht es hier.   

Moderator: Matthias Klaus: Hallo und herzlich willkommen zu Echt behindert!. Mein Name ist Matthias Klaus und ich muss erst einmal etwas loswerden. Meine heutige Gesprächspartnerin Annette Standop aus Bonn ist ein wirklich erstaunlicher Mensch. Sie ist Politikerin, gesellschaftlich engagiert, Psychotherapeutin und Heilpraktikerin. Sie ist ein sehr kluger, äußerst beredter Mensch. Und sie hat einen erfrischenden Humor. Das alles, trotzdem sie seit der Kindheit im Rollstuhl sitzt. Sie hat es nicht leicht. Dennoch hat sie es sich nicht nehmen lassen, hier heute persönlich bei uns im Studio vorbeizukommen. Ich finde das im höchsten Grade bewundernswert. Hallo Frau Standop, wie fühlen Sie sich, wenn Sie so vorgestellt werden?

Annette Standop: Ja, also erstmal vielen Dank für die freundliche Einleitung und für die Zusammenfassung meiner vielen verschiedenen Fähigkeiten. Ich bin sehr erstaunt, weil ich muss ganz ehrlich sagen, wenn ich so unsere beiden Situationen betrachte, finde ich eigentlich ihre Leistungen besonders bemerkenswert. Sie haben mich hier gerade als blinder Mensch am Tresen abgeholt, wo Sie gar nicht sehen können, obwohl es ja auch kein Leitsystem gibt. Hut ab für diese unglaubliche Leistung, die Sie mit Ihrem täglichen Leben erbringen.

Matthias Klaus: Ja, wie soll ich sagen: "1 zu 1". Also los, jetzt können wir loslegen. Heute geht es um Bewunderung. Wir möchten darüber sprechen, was wir hier immer wieder erleben, wie wir wahrgenommen werden und wie wir uns selbst dabei fühlen, wie wir das Erleben. Ich selbst bin blind, wie meine Studio Gästin, mein Studiogast, gerade schon gesagt hat. Das Stück handelt also auch ausnahmsweise immer mal wieder von mir. Doch zunächst einmal zu Ihrer Person, Frau Standop, jetzt jenseits von Lobhudeleien. Da wir sie ja nicht sehen, können Sie uns ein bisschen beschreiben, welcher Art Behinderung Sie denn mit sich herumtragen.

Annette Standop: Also ich komme im Rollstuhl hier her. Ich habe eine spinale Muskelatrophie. Das ist eine Muskelschwäche, die neurologisch bedingt ist. Ich kann nicht laufen. Ich kann meine Arme nur sehr bedingt benutzen. Ich komme hier auch mit persönlicher Assistenz an.

Ja, für alles, was ich im Leben so brauche, brauche ich die Unterstützung anderer Menschen und diverse Hilfsmittel. Aber ich muss gestehen, das hindert mich an relativ wenig, weshalb ich auch immer wieder von mir weniger als behinderte Frau, sondern eher als Rollstuhlfahrerin spreche.

Matthias Klaus: Was tun Sie beruflich? Können Sie ein bisschen Ihre Biografie aufblättern?

Annette Standop: Ja, gut, Biografie? Sehr bunt! Ich habe ursprünglich mal Theologie studiert, katholische Theologie, habe dann auch promoviert, bin dann später ganz raus aus dem kirchlichen Dienst. Ich habe bei der Versicherung gearbeitet und nach anderen Zwischenstopps hab ich eine Gestalttherapie-Ausbildung gemacht. Es ist etwas in psychotherapeutischer Richtung.

Ich arbeite also heute sowohl psychotherapeutisch als auch als Coach und Kommunikationstrainer in eigener Praxis. Ich nenne das 'stand op! Praxis für Veränderungsprozesse'. Wir sind ja hier im Rheinland bei uns. Standop, der Name, den ich habe, heißt auf rheinisch so ein bisschen was wie 'Steh auf' und das passt eigentlich ganz gut, sowohl zu mir als Rollstuhlfahrerin als auch zu der Arbeit, die ich tue.

Matthias Klaus: Das sind die Dinge, die sie tun. Und sie sagen selbst von sich, dass Behinderung da eigentlich keine Rolle spielt.

Annette Standop: Ist das richtig? Ja und nein! Ich würde sagen, für mich selber spielt sie keine Rolle. Ich habe mir natürlich einen Beruf ausgesucht, indem ich auch mit meiner Behinderung normal arbeiten kann. Ich wäre wohl ein ziemlich schlechter Dachdecker geworden. Aber natürlich spielt meine Behinderung für mein Gegenüber immer eine Rolle.

Zu mir kommen manche Leute, die jetzt nicht mitbekommen haben, dass ich im Rollstuhl bin. Klammer auf... Ich selber sage das nicht am Telefon beim Erstgespräch. Man kann aber durchaus auch auf der Website sehen, dass ich im Rollstuhl bin. Und diese Leute sind manchmal erst überrascht. Stutzen kurz und setzen sich dann hin, dann die sind schon sehr aufmerksam.

Bei manchen Leuten spielen aber auch Themen rund um Behinderung in ihrer eigenen Geschichte eine Rolle, ob als Angehöriger oder als selbst betroffener Mensch oder als jemand, der beruflich mit dem Thema Behinderung zu tun hat. Ich arbeite auch viel für Einrichtungen als Supervisorin oder Teamentwicklerin, die durchaus dem Feld der Behindertenhilfe zuzuordnen sind.

Da habe ich natürlich mit meiner Behinderung eine ganz besondere Stärke mitzubringen, die andere Coaches mit anderen Themen nicht mitbringen können. Einfach weil ich verstehe, worum es geht. Weil ich die Erfahrung mitbringe.

Matthias Klaus: Ich habe hier mal ein paar Zitate zusammengetragen, die mir so über den Weg gelaufen sind, jetzt hören wir mal kurz die inoffiziellen Top 12 der behinderten Bewunderung.


Sprecher/Sprecherin: Oh, ich bewundere euch so!

Sprecher/Sprecherin: Ich beobachte Sie seit Monaten und bin total fasziniert, wie Sie sich bewegen.

Sprecher/Sprecherin: Wenn ich Dich so sehe, dann denke ich. Ich kann mich überhaupt nicht beschweren.

Sprecher/Sprecherin: Durch die aufopferungsvolle Hilfe seiner Frau konnte er all dies erreichen.

Sprecher/Sprecherin: Wir haben die Spastikerin, zur schönsten Frau des Abiturballs gewählt.

Sprecher/Sprecherin: Wenn die Frau im Rollstuhl das kann, dann kannst Du das auch.

Sprecher/Sprecherin: Unsere behinderten Mitarbeiter haben immer so gute Laune.

Sprecher/Sprecherin: Trotz seines schweren Schicksals hat er ein erfülltes Leben.

Sprecher/Sprecherin: Wie sie das alles schafft. Ein erblindete Ehemann, drei Kinder, der Wahnsinn.

Sprecher/Sprecherin: Die einzige Behinderung im Leben ist doch eine schlechte Haltung.

Sprecher/Sprecherin: Down-Syndrom und trotzdem so fröhlich.

Sprecher/Sprecherin: Toll, wie du das alles machst!


Matthias Klaus: Ich nehme mal an, ein paar davon haben Sie schon mal irgendwo gehört?

Annette Standop: Ja, durchaus. toll, wie du das alles machst. Trotz ihres schweren Schicksals. Solche Dinge. Ich glaube das kennen wir beide, oder?

Matthias Klaus: Ja, auf jeden Fall. In allen Farben und Formen.

Annette Standop: Trotzdem habe ich da auch einen Favoriten. Ich muss mal sagen, dass es mein Favorit ist: Die einzige Behinderung ist doch eine schlechte Haltung. Der Satz ist ja auch ein echter Klassiker, weil der im Prinzip suggeriert oder unterstellt, dass man mit allem fertig werden kann, wenn man nur positiv denkt und immer versucht, das Beste draus zu machen.

Der Begriff Bewunderungsporno und das ist ja auch so der Aufhänger, den wir heute hier gewählt haben. Kommt ja von einer australischen Behindertenrechtlerin, die immer sagt, wenn ich die Treppe freundlich anlächele, wird die noch lange nicht zur Rampe und das muss ich sagen, ist genau der Punkt, wo auch diese Sache mit der Haltung für mich fragwürdig wird.

Eine Behinderung ist natürlich nicht immer einfach. Wir müssen schon einiges anstellen, damit wir mit unserem Leben zurechtkommen und Umwege in Kauf nehmen, bestimmte Dinge auch anders machen als andere Leute. Aber allein mit froher Stimmung und Optimismus kommt man da nicht weiter.

Matthias Klaus: Was mich bei dieser Liste jetzt auch beeindruckt, ist: Das sind ja alles Sachen, die bestimmt von den Leuten alles sehr gut gemeint sind. Und jetzt könnte man sich ja fragen die Behinderten sind ja echt irgendwie manchmal auch nervig. Also früher hatten wir immer Mitleid. Wir bekamen nur Mitleid, und "die Armen". Das war uns nicht recht? Wollten wir nicht? Und jetzt bekommen wir die Bewunderung. Wir werden aufs große Podest gehoben. Jetzt passt uns das auch wieder nicht.

Annette Standop: Und wieder ist es nicht richtig! Die armen Nichtbehinderten haben es wirklich nicht leicht mit uns! Das muss man ja auch mal ganz ehrlich sagen. Ich glaube, das große Problem liegt einfach daran, dass man uns dann trotzdem wieder als was Besonderes, Anderes als etwas unnormales, und irgendwie vollkommen Fremdes betrachtet.

Es ist keine besondere Leistung, finde ich, sein Leben einfach zu leben, so wie man es gerne möchte und dabei die Möglichkeiten auszuschöpfen, die man hat. Das betrifft mich, das betrifft Sie. Das betrifft eigentlich jeden anderen Menschen auf der Straße, den man trifft. Und ob das jetzt besonders ist, nur weil da jemand blind oder im Rollstuhl ist, das wage ich jetzt doch mal zu bezweifeln.

Aber solche Komplimente sind ja grundsätzlich mal gut gemeint. Das, glaube ich, würde man auch niemandem unterstellen, dass das was Bösartiges ist. Gar nicht. Aber das Bild von Behinderung das dahintersteckt, finde ich trotzdem ein bisschen kritisch.

Matthias Klaus: Sie haben gerade Stella Young schon erwähnt. Ich hab mal die erste Minute von diesem legendären Vortrag, wo wir alle oder zumindest viele damals gedacht haben: sie sagt es aber einmal richtig, genau wie es ist. Und wir haben es selber nicht so schön in Worte fassen können. Die erste Minute mal übersetzt, die hören wir uns jetzt mal gerade kurz an.

Stella Young: Ich bin in einer ländlichen Kleinstadt in Victoria aufgewachsen. Ich hatte eine sehr normale Kindheit. Ich bin zur Schule gegangen, habe mit Freunden rumgehangen, mit meinen jüngeren Schwestern gestritten. Alles ganz normal. Als ich 15 war, ist jemand aus meiner Gemeinde auf meine Eltern zugegangen und hat mich für einen Preis für gesellschaftliches Engagement vorgeschlagen. Meine Eltern meinten, "Ja, sehr schön, aber es gibt da ein Problem. Sie hat eigentlich nichts erreicht oder gemacht bisher".

Und sie hatten recht damit. Ich hatte ganz gute Schulnoten. Nachmittags ein bisschen im Friseursalon meiner Mutter gejobbt und ansonsten Fernsehserien geschaut. Wenn man also die Behinderung außer Acht ließ, hatte ich wirklich nichts Besonderes geleistet. Ein paar Jahre später, ich war inzwischen Lehrerin, da meldete sich nach 20 Minuten in einer neuen Klasse ein Junge und meinte, "Wann kommt denn jetzt Ihre Ansprache"?

Ich meinte welche Ansprache? Wir hatten gerade 20 Minuten über Rechtsfragen gesprochen. Er meinte, "Na ja, die Motivationsrede halt. Wenn Leute im Rollstuhl in die Schule kommen, dann sagen sie normalerweise so inspirierende Sachen".

Und da ist mir klar geworden Dieser Junge hat Behinderte bisher nur als Objekte der Inspiration erlebt und er kann da nichts für. Für viele von uns sind Behinderte nicht unsere Lehrer, Ärzte oder diejenigen, die ihnen die Maniküre machen. Wir sind keine realen Leute. Wir sind da, um zu inspirieren.

Matthias Klaus: Stella Young hat das Ganze dann eben "Inspiration Porn" genannt. Das ist ja ein sehr krasses Wort. Ist das angemessen?

Annette Standop: Ich habe es zum ersten Mal vor ein paar Jahren gehört und musste erst einmal herzlich lachen. Da entstehen ja sofort Bilder im Kopf. Nicht gerade die anständigsten Bilder. Aber im Prinzip steckt ja dahinter so der Anspruch, dass jemand herhalten muss, um in mir bestimmte Gefühle zu wecken und bestimmte Einstellungen zu wecken.

Stella Young hat es gerade gesagt, "Wir sind eigentlich keine echten Leute, keine echten Persönlichkeiten, sondern wir sind dazu da, um andere zu inspirieren". Wir werden also Objekte, ähnlich wie in dem Porno - auch wie in einem Porno, Frauen oder Männer zum Sexualobjekt erklärt werden. Das ist schon hart.

Es ist auch ganz schön bissig, aber mit dem Begriff weckt sie natürlich sofort Aufmerksamkeit. Und deshalb finde ich den Begriff eigentlich ziemlich gut. Man muss drüber diskutieren, man kann darüber streiten, aber er lässt auf keinen Fall kalt. Und das finde ich richtig.

Matthias Klaus: Es ist natürlich so als Wort wirklich krass. Und sie hat dann später noch erklärt, in diesem wirklich inzwischen legendären Vortrag, wieso das überhaupt funktioniert. Das fand ich ja auch interessant. Sie sagt das Ganze geht eigentlich nur, wenn man sagt, Behinderung wäre an sich etwas Schlechtes, was es zu vermeiden gilt, also nicht etwas, womit man klar kommt oder nicht. Das gibt es ja auch. Aber eben etwas, was an sich schlecht ist.

Und dass die Leute, die sich das angucken und sagen, "Hey, ich bewundere dich so, du inspirierst mich", dass die sich im Prinzip vor allen Dingen von dem Schlechten abgrenzen und dann versuchen, sich selber besser zu fühlen. Also am Elend anderer Leute aufrichten sozusagen. Sie haben ja psychotherapeutische Erfahrung. Sie arbeiten damit. Können Sie erklären, was in diesen Menschen da passiert? Warum machen die das? Haben Sie denn sonst nichts, woran Sie sich freuen?

Annette Standop: Ich glaube, dass vor allem der Wunsch dahinter steht, eigene Brüche oder Unzufriedenheiten oder Dinge, die im eigenen Leben als negativ erlebt im Vergleich zu jemand anderem als weniger bedrohlich, weniger schlimm zu erleben. Das geht natürlich am besten dadurch, indem man sich jemanden sucht, von dem man einfach annimmt, dass es ihm schlechter geht. 

Dadurch wird das eigene ich nenne es jetzt mal etwas drastisch Elend, dass man vielleicht so erfährt auch ein bisschen leichter zu ertragen. Vorhin bei ihren Top 12 war ja auch der Spruch dabei, "Wenn die damit klar kommt, dann komm ich doch mit meinem Leben auch klar". Das ist der Mechanismus, der dahintersteht.

Ich finde das erstmal weder verwerflich noch irgendwie besonders schlimm, sondern einfach zutiefst menschlich. Aber Sie haben gerade angesprochen Man unterstellt, dass eine Behinderung etwas Schlechtes ist. "Bad thing" ist da ja genau die böse Sache das BT. Ich nenne es einfach ein Vorurteil. Das ist eine Erfindung und auch ein großer Irrtum, denn die Behinderung an sich ja einfach nur körperlich oder wie auch immer vorhandene Beeinträchtigung ist erst mal nichts Schlimmes, sondern es sind die Umstände, unter denen man dann damit lebt.

Das heißt, das soziale Bild von Behinderung, das ja heute eigentlich gang und gäbe ist, sagt ja, dass das, was ich an Benachteiligungen in meinem Umfeld erlebe, eine Behinderung erst schwer macht und nicht die bloße Tatsache von Einschränkungen, dass man nicht sehen und nicht hören kann.

Ich glaube, der Satz, den Young später auch noch gesagt hat: "Sie haben uns eine große Lüge aufgetischt. Sie haben behauptet, dass Behinderung etwas Schlechtes ist". Und diese Lüge, sie nennt es Lüge, ist einfach nur ein überkommenes Bild von Behinderung, dass immer noch davon ausgeht, dass Menschen mit Behinderung unglücklich oder benachteiligt sind. Ob sie es sind liegt nicht an der Behinderung, da haben wir heute ganz andere Möglichkeiten als früher. 

Matthias Klaus: Was mir auffällt, wenn ich drüber rede, auch wenn ich hier sitze, auch als wirklich selbst Betroffener. Ich weiß nicht ob Ihnen das auch schon mal so gegangen ist, aber mir ist das im Leben öfter so gegangen. Ich habe es ja dann selber geglaubt.  Also dass man dann da so oft erzählt kriegt. Leistung ist das einzige, was zählt.

Deswegen muss Behinderung schlecht sein, weil sie einem auf der normalen Leistungsskala Einschränkungen beschert. Und dann findet man sich wertloser und all das geschieht. Und sich davon freizumachen ist auch ganz schön Arbeit, sag ich mal. Ich weiß nicht, ob Sie das auch kennen. Oder waren Sie da immer mit sich im Reinen?

Annette Standop: Ich kenne das auch so. Meine Eltern haben mir in bester Absicht als Kind erzählt: "Du musst besser sein als die anderen, weil man von dir viel weniger erwartet und dir deswegen auch weniger Möglichkeiten gibt". Ich denke, dieses Leistungsdenken, das ist bei Menschen wie uns beiden, die unter Anführungszeichen trotz Behinderung eine gute Ausbildung und auch einen guten Beruf haben, schon ziemlich verbreitet.

So nach dem Motto: "Ich zeig, was ich kann und ich kann viel", damit man mich überhaupt irgendwie ernst nimmt. So nach dem Motto, "damit ich überhaupt über die Tischkante gucken darf". Und das ist verhängnisvoll. Ich glaube, dass Menschen mit Behinderung, die in der Lage sind, viel zu leisten, das von sich aus auch tun.

Aber es gibt halt nun mal auch wie bei den nicht Behinderten, genauso Menschen, die das nicht können oder die einfach auch gar kein Interesse haben, viel im Beruf zu erreichen, die ganz gut damit leben können, irgendwie durchzukommen und ihr Leben sonst zu genießen. Aber ich halte das auch für ganz kritisch, gerade was heute auch von den Kindern mit Behinderung teilweise erwartet wird. 
Matthias Klaus: Wir nähren das auch manchmal. Wenn wir, und das kennen Sie auch, weil Sie ja auch im öffentlichen Leben stehen, dass die Menschen, die im öffentlichen Leben stehen und die dann auch mal im Fernsehen kommen, dass sie dann auch manchmal auch ein bisschen lieben. Beifall ist ja auch irgendwie schön. 

Annette Standop: Ich glaube, in uns steckt sicher auch die Rampensau. Aber ob das typisch behindert ist, das würde ich jetzt mal bezweifeln. Das glaube ich nicht. Aber ich denke schon, dass wir vielleicht selber ab und zu mal dem Missverständnis erliegen, dass wir tatsächlich was ganz Besonderes sind und uns vielleicht selber auch wegen unserer Behinderung besonders fühlen.

Und das finde ich fast noch gefährlicher, weil dadurch zementieren wir ja selber dieses Bild von: Es ist was Besonderes, mit der Behinderung normal zu leben. Und jetzt sind wir eigentlich bei dem Begriff, der mir da in dem Zusammenhang am allerwichtigsten ist. Was ist eigentlich normal? Also bin ich weniger normal als Sie. Jetzt sind Sie blind. Ich kann sehen. Sie können dafür laufen. Das kann ich nicht. Sind wir beide weniger normal als irgendjemand, der draußen auf der Straße uns begegnet?

Oder gibt es sowas wie unterschiedliche Formalitäten, die alle immer für den Menschen gelten, der damit lebt, was er auch immer hat? Ich glaube, da müssen wir hin, dass wir Normalität heute anders verstehen. Dann hören wir auch auf, so viel zu vergleichen in die eine wie die andere Richtung.

Matthias Klaus: Ich finde es auch schwierig oder auch zumindest bedenkenswert, dass ja auch einige von unseren behinderten Aktivisten... (man könnte mir dasselbe jetzt vorwerfen mit diesem Podcast) wir leben ja auch davon. Also es gibt durchaus, so sag ich mal, Ex Paralympics Sieger, die dann Motivationsredner werden oder Coaching-Bücher schreiben.

Vor ein paar Jahren gab es mal einen, ohne Arme und Beine, der machte dann irgendwann nichts anderes mehr, als bei Firmen herumgereicht zu werden und denen zu erzählen (eben nach diesem einen Satz, den wir vorhin hatten): "Wenn ich das kann und gute Laune habe, dann stellt euch mal bitte nicht so an". Davon leben Menschen. Das ist nicht so oft, aber das gibt es. Und das passiert. Das hat den Nebeneffekt, dass über die Behinderung aufgeklärt wird. Gleichzeitig verkauft man sich aber auch ein bisschen aus bei der Gelegenheit. 

Annette Standop: Da muss ich jetzt aber doch ein bisschen widersprechen. Der Unterschied von dem, was Sie gerade erzählt haben, und dem, was manchmal von den Leuten draußen kommt, ist, dass sich dieser Mann ohne Arme und Beine selber dazu entschieden hat, das zu seinem Beruf zu machen.

Der hat im Prinzip das genommen was er hat und daraus die berufliche Existenz gemacht. Aber der wurde nicht von jemand anderem genommen und rumgereicht und quasi vorgeführt wie ein Zirkuspferd als Motivation dargestellt. Das hat er selber gemacht. Er hätte sich auch dagegen entscheiden können. Das finde ich, ist doch ein Unterschied, ob man den Leuten damit quasi einen Bären aufbindet und Vorurteile zementiert ist auch eine andere Frage.

Ich glaube, auch unter uns Behinderten, sage ich jetzt mal, gibt's verschiedene Ansichten zu dem Thema. Da ist ja kein einheitliches Bild oder keine einheitliche Antwort auf die Frage: "Was wollen wir eigentlich als Bild von uns, als Menschen mit Behinderung nach draußen verkaufen"? Und ich glaube, das ist etwas völlig Normales. Nur weil wir alle behindert sind, müssten wir ja nicht genau gleich mit diesem Thema umgehen. Von daher kann man darüber streiten und es macht ja auch Spaß, drüber zu streiten.

Matthias Klaus: Natürlich muss auch jeder irgendwie einen Job haben und wenn ich ein Produkt anbieten kann und wenn das Produkt Aufklärung heißt und ich das selber noch in Kontrolle habe, dann habe ich damit auch überhaupt kein Problem. Es kann halt auch sein, dass mir das entgleitet, dass man dann irgendwann nur noch die Rolle spielt und nicht mehr beeinflussen kann, wie die Medien einen durch die Talkshows reichen zum Beispiel.

Das wollte ich damit auch nur sagen, es ist nicht immer so nur weil ich mich zu etwas entscheide, funktioniert das auch immer, weil eben die mediale Wirklichkeit sehr mächtig ist.

Annette Standop: Naja, und es gibt ja auch so ein paar Celebrities in der behinderten Szene. Raul Krauthausen ist einer hier in Deutschland. Einer der überall, in allen Kongressen, in Fernsehshows, auf allen Talkshows auftritt, wo es um Behinderung und Inklusion geht. Auch der hat sich da bewusst für entschieden, dass er das macht, auch mit aufklärerischem Interesse.

Mein Ding wäre das auch nicht. Ich möchte nicht überall Behinderte sein, die einfach nur wegen ihrer Behinderung zu Wort kommt. Als ich mich entschieden habe hier in Bonn für den Rat zu kandidieren, da war das auch so. Ich habe mir echt den Kopf zerbrochen. Kann ich mich da vorne hinstellen und die Bewerbungsrede halten? Wie werden sie mich sehen? Sehen die mich jetzt als die Quoten-Behinderte? Oder als die Vorzeige-Behinderte?

Ich wüsste gar nicht, was ich schlimmer gefunden hätte. Dann hat doch keiner gegen mich kandidiert. Was ich natürlich automatisch auch wieder auf meine Behinderung geschoben habe. So nach dem Motto da traut sich keiner. Das wäre moralisch unanständig. Bis ich gemerkt habe, dass das einfach keine wollte. Aber das war ein Thema der Anfänge und da nehme ich mich auch gar nicht aus von einer gewissen Unsicherheit. Warum sollten nur die anderen unsicher sein dürfen? Ich bin es auch.

Heute ist das gar kein Thema mehr. Heute kandidieren die Leute gegen mich und ich habe da kein Problem mit. Heute wird mit mir genauso gestritten und genauso gerungen wie mit anderen. Und es ist einfach normal. Aber natürlich muss man erst mal zu so einer Normalzeit kommen. Gerade auch da, wo sonst wenig Menschen mit Behinderung sind. Und da ist es ja die Politik heute immer noch. Da dauert es ja auch eine Weile, bis man nicht automatisch immer die ist, die sich um Behinderungsthemen kümmert, sondern die auch mal ran darf, wenn es um sozialen Wohnungsbau geht oder Drogenprobleme oder um die Finanzaufstellung der Stadt.

Matthias Klaus: Frau Standop, ich möchte mich bei Ihnen bedanken für diese offenen Worte, dafür, dass Sie zum Thema Bewunderung mit mir geredet haben. Und ich denke mal, wir werden wahrscheinlich (Sie sind ja gut im Thema) bestimmt nochmal Gelegenheit finden, eine weitere Podcast Folge zu machen.

Sie werden auch über andere wesentlich handfestere Sachen bestimmt viel wissen. Wenn wir es mal über bauliche Barrierefreiheit haben, können wir uns gerne wieder treffen. Ansonsten danke ich Ihnen. Das war "Echt behindert!" für heute. Mein Studiogast Annette Standop aus Bonn und ich selbst bin Matthias Klaus.

Das war "Echt behindert!" Mehr Folgen und mehr Infos unter: dw.com/Wissenschaft. 

Zum Podcast geht es hier.   

Wir freuen uns über Feedback, Anregungen und Kritik.

Schreiben Sie an: echt.behindert@dw.com

Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.