Bayer Leverkusen - der Meister mit dem Imageproblem
14. April 2024"Ich und die meisten anderen sehen uns nicht als Pillen- oder Plastikklub, sondern wir sind hundertprozentig ein Traditionsverein", sagte Fernando Carro fast schon trotzig in einem Interview des Internet-Streamingdienstes DAZN. Der Spanier ist seit Mitte 2018 Geschäftsführer des Fußball-Bundesligisten Bayer 04 Leverkusen. Carro verwies darauf, dass der Verein in diesem Sommer bereits seinen 120. Geburtstag feiert. Bayer 04 blickt damit auf eine längere Geschichte zurück als einige andere Klubs der höchsten deutschen Spielklasse, die sich die Tradition groß auf die Fahne schreiben, wie Borussia Dortmund (gegründet 1909) oder der rheinische Erzrivale 1. FC Köln (1948).
Nach einer Unterschriftensammlung von Mitarbeitern des Unternehmens war am 1. Juli 1904 der "Turn- und Spielverein der Farbenfabriken, vormals Friedrich Bayer & Co in Leverkusen" ins Leben gerufen worden. Drei Jahre später hatte der Betriebssportverein auch eine Fußballmannschaft. Das Stadion der Leverkusener steht seit 1958 in einer Flussaue am Stadtrand. 2009 wurde es erweitert und zu einem Multifunktionskomplex umgebaut - mit Hotel und Tagungsräumen. Die BayArena fasst 30.210 Zuschauer.
Mannschaft mit hohem Marktwert
Von 1949 an gab es im Bayer-Team auch Vertragsspieler. Sie erhielten Prämien fürs Fußballspielen. Von Profis konnte damals jedoch noch nicht die Rede sein. Noch in der zweite Hälfte der 1970er Jahre arbeiteten die Fußballer der Mannschaft drei bis viermal pro Woche vormittags im Bayer-Werk. Zu dieser Zeit hatte die für die Leverkusener übliche Bezeichnung Werkself noch einen realen Hintergrund.
Heute muss keiner der Bayer-Profis mehr Zeit in anderen Abteilungen des Unternehmens verbringen. Das Team ist seit langem Aushängeschild und Werbeträger des weltweit operierenden Chemie- und Pharmakonzerns. Der Marktwert der Mannschaft von Erfolgstrainer Xabi Alonso wird aktuell mit knapp 600 Millionen Euro veranschlagt. Allein der erst 20 Jahre alte deutsche Nationalspieler Florian Wirtz wird auf 110 Millionen Euro geschätzt. Höher als die Mannschaft der Leverkusener ist in Deutschland nur der Kader des FC Bayern München bewertet: mit rund 930 Millionen Euro.
Bayer 04 ist der Bundesliga-Verein mit dem derzeit höchsten Anteil internationaler Spieler. 78 Prozent der Profis haben ihre Wurzeln in anderen Staaten. In den zurückliegenden Jahrzehnten galt der Klub als Sprungbrett vor allem für brasilianische Fußballtalente. So begannen die Europa-Karrieren der Weltmeister Jorginho (1989 bis 1992), Paulo Sergio (1993 bis 1997) und Lucio (2001 bis 2004) in Leverkusen.
100-prozentige Tochter des Bayer-Konzerns
Die Bayer AG gehört zu den zehn größten nicht-staatlichen Sportsponsoren des Landes - sowohl im Spitzensport als auch im Breitensport und im Parasport. Der Konzern verweist auf rund 70 Medaillen von Bayer-Sportlerinnen und -Sportlern bei Olympischen Spielen, 90 bei Paralympics und über 200 bei Weltmeisterschaften. Der TSV Bayer 04 Leverkusen ist der erfolgreichste deutsche Leichtathletikverein. Und doch bezeichnet der Konzern die Fußball-Abteilung als "Flaggschiff" der Bayer-Top-Mannschaften. Schließlich ist Fußball Deutschlands Sportart Nummer eins.
Wie viel Geld genau die Bayer AG jährlich in den Verein pumpt, wird nicht veröffentlicht. In Medienberichten taucht immer wieder die Summe 25 Millionen Euro auf, bestätigt ist sie jedoch nicht. Seit 1999 sind die Profimannschaften der Männer und Frauen in der "Bayer 04 Leverkusen Fußball GmbH" ausgelagert. Rund 300 Menschen arbeiten für diese Kapitalgesellschaft. Die Bayer AG hält alle Anteile daran: sechs Prozent direkt und die restlichen 94 Prozent über ein Tochterunternehmen. Aufgrund dieser Konstruktion ist der Konzern nicht verpflichtet, Jahresabschlüsse der Fußball-Abteilung zu veröffentlichen. Vertraglich ist geregelt, dass die wirtschaftliche Bilanz ausgeglichen ist: Wenn die Fußball-GmbH Gewinne macht, führt sie diese an Bayer ab. Schreibt sie rote Zahlen, gleicht der Konzern die Verluste aus.
50+1-Regel gilt für Bayer 04 nicht
Dass die Bayer AG alle Anteile an Bayer 04 Leverkusen halten darf, ist eine Ausnahme von der im deutschen Fußball eigentlich geltenden 50+1-Regel. Diese soll verhindern, dass Großinvestoren die Vereine beherrschen. Die Klubs erhalten nur dann eine Spiel-Lizenz, wenn bei Versammlungen der "Mutterverein" über "50 Prozent der Stimmenanteile zuzüglich mindestens eines weiteren Stimmenanteils" verfügt. Das bedeutet: Auch wenn ein Investor die finanzielle Kontrolle übernimmt, darf er nicht über die Mehrheit der Stimmen verfügen, damit er von den Vereinsmitgliedern noch überstimmt werden kann. Ausnahmen gelten nur für die traditionellen Werksmannschaften Bayer 04 Leverkusen und VfL Wolfsburg. Die Wolfsburger, deutscher Meister 2009, waren aus einem Betriebssportteam des Automobilkonzerns Volkswagen hervorgegangen.
Die Sonderrolle der Leverkusener dürfte einer der Hauptgründe dafür sein, dass Bayer 04 - zumindest bislang - nicht unter den beliebtesten deutschen Fußball-Klubs auftaucht. So lag Leverkusen bei einer Umfrage im vergangenen Dezember trotz überragender Leistungen nur auf Platz zwölf. Es bleibe bei Bayer 04 ein "Geschmäckle", antwortete das Fanbündnis "Unsere Kurve" auf die Frage, wie die Fanszene dazu stehe, dass ausgerechnet ein Werksklub den Serienmeister FC Bayern ablöse.
Doch die Vorbehalte gegen Bayer 04 scheinen zu bröckeln. In dieser Saison knackte der Klub die Marke von 50.000 Mitgliedern. Im Vergleich zu den mehr als 300.000 Mitgliedern des Rekordmeisters FC Bayern erscheint die Zahl niedrig. Der Eindruck relativiert sich aber, wenn man bedenkt, dass in der Stadt Leverkusen nur rund 170.000 Menschen leben.
Mit dem ersten deutschen Meistertitel der Vereinsgeschichte hat Bayer 04 Leverkusen einen sportlichen Meilenstein geschafft. Geht es nach Klubchef Carro, ist die Reise damit aber noch lange nicht zu Ende. Erfolgstrainer Alonso bleibt dem Klub erhalten, wahrscheinlich ebenso Ausnahmespieler Florian Wirtz. "Alles, was wir in den letzten Jahren an Potenzial gesehen und erkannt haben, wollen wir in der Zukunft ausschöpfen", sagte der Geschäftsführer. "Alles mit einem Ziel: sportlich so erfolgreich wie möglich zu sein."