Politische Kernschmelze in Großbritannien
16. Oktober 2022Mit einer Tüte Eiskrem in der Hand versetzte US-Präsident Joe Biden am Wochenende der britischen Premierministerin einen weiteren politischen Schlag: "Es war vorhersehbar", sagte Joe Biden, auf das Schicksal von Liz Truss angesprochen. "Ich war nicht der einzige, der es für einen Fehler hielt die Steuern zu senken zu einer Zeit, wo ... na ja … ". Wo es eine weltweite Inflation gibt, meinte der Präsident. Dabei hatte Liz Truss inzwischen den Salto rückwärts versucht, um ihr Amt zu retten. Aber der Rauswurf von Finanzminister Kwasi Kwarteng und die Ernennung eines Nachfolgers scheint die Rufe nach ihrer Ablösung nur verstärkt zu haben.
Geheime Diskussionen über Truss Rauswurf
Die britischen Sonntagszeitungen beschreiben das ganze Ausmaß des Desasters: Der neue Finanzminister Jeremy Hunt übernehme die Kontrolle, "während Rebellen die verletzte Premierministerin umkreisen" titelt die konservative Times. "Abgeordnete diskutieren den Rauswurf der Premierministerin, um die Partei zu retten" schreibt der linksliberale Guardian, während der Sunday Express von einer "geheimen Verschwörung" berichtet, Truss aus dem Amt zu jagen. Es scheint nicht mehr darum zu gehen, ob sie Regierungschefin bleiben kann, sondern nur noch um den Zeitpunkt ihrer Amtsenthebung.
Dabei ist die erneute Ernennung eines neuen Premierministers im Prinzip nicht so einfach. Im Juli hatten die Tories schließlich bereits wegen einer Kette von Skandalen Boris Johnsonaus dem Amt gejagt. Er wurde ersetzt von Liz Truss, gegen den Willen einer Mehrheit der konservativen Abgeordneten, aber ausgewählt von den Parteimitgliedern an der Basis. Die Regeln der Tories schreiben nun vor, dass sie ein Jahr Schonfrist bekommen müsste, bevor auch ihre Amtsführung infrage gestellt werden kann.
Inzwischen scheinen jedoch viele bereit, die Regeln zu zerreißen und den Vormann der Tory-Fraktion im Unterhaus einfach zu Liz Truss zu schicken, um ihr die Gefolgschaft zu entziehen. Es wäre die Aufgabe von Graham Brady, der Premierministerin zu erklären, dass sie keine Mehrheit mehr hat. Danach bliebe ihr kein Ausweg außer dem Rücktritt. Diese peinliche Aufgabe hatte Brady 2018 schon bei Theresa May erfüllt und hinter den Kulissen bei Boris Johnson. Er ist quasi der Vollstrecker der britischen Konservativen.
Sky News Chefkorrespondentin Beth Rigby schreibt: "Eine Quelle bei den Tories sagte mir, eine größere Zahl von Briefen sei an Sir Graham Brady geschickt worden, der gerade in Athen ist. 'Wartet, bis er zurückkommt'."
Finanzminister Jeremy Hunt übernimmt das Ruder
In der politischen Sonntags-Talkshow der BBC sprach Moderatorin Laura Kuensberg von einer "politischen Kernschmelze" und von "Chaos", aber der neue Finanzminister tat wenig, um die Nerven der Briten zu beruhigen. "Wir müssen ein paar sehr schwierige Entscheidungen treffen, zu Steuern und zu Ausgaben" sagte Jeremy Hunt. Die Regierung müsse den Finanzmärkten jetzt zeigen, dass sie verantwortungsvoll handeln und über den Haushalt Rechnung ablegen werde.
Es sei ein Fehler gewesen, finanzpolitische Pläne vorzustellen, ohne die Haushaltskontrolleure einzubeziehen, so Hunt. Ein Tritt gegen Truss und seinen Amtsvorgänger, denn normalerweise veröffentlicht eine unabhängige Behörde eine Gegenrechnung zu den Vorhaben der Regierung. Ex-Minister Kwasi Kwarteng jedoch hatte sich darüber hinweggesetzt, worauf die Finanzmärkte seiner Regierung das Vertrauen entzogen.
Die Ideen jedoch kamen direkt von Liz Truss, die im Glauben an Wachstum um jeden Preis die Steuersenkungen auf Pump propagiert hatte, die zur Talfahrt ihrer Regierung führten. Ihr neuer Finanzminister aber nimmt jetzt alles zurück und behauptet das Gegenteil. Die angekündigte Senkung des Spitzensteuersatzes ist gekippt. Die Unternehmenssteuer solle steigen, statt wie angekündigt zu sinken. Und ansonsten müssten alle Ministerien über Einsparungen nachdenken.
Nach Jahren der Austerität und endloser Sparrunden unter dem konservativen Premier David Cameron in Folge der Finanzkrise dürfte diese Ankündigung den Tories keine Freunde machen. Außerdem beruhen Hunts Pläne darauf, dass sich Truss bis zu regulären Neuwahlen im Frühjahr 2024 im Amt halten kann und ihre Partei über katastrophale Umfragewerte und eine drohende Niederlage von epischem Ausmaß hinwegsieht. "Nach so viel Kehrtwenden, warum sollten die Bürger Liz Truss jetzt noch glauben?", fragt die BBC-Moderatorin. "Sie hat zugehört, sie hat sich geändert", antwortete Jeremy Hunt, die Leute wollten doch Stabilität. Aber wollen sie diese Stabilität?
Ein Winter des Missvergnügens
Im Laufe der nächsten Woche lassen die Gewerkschaften über Streiks im öffentlichen Dienst abstimmen. Bahnangestellte haben bereits den Ausstand geprobt, jetzt fordern Krankenschwestern drastische Gehaltserhöhungen mit Inflationsausgleich. Die Regierung hat bisher magere drei Prozent angeboten. Die eigentliche Zeitbombe für die Briten, in der Mehrzahl Eigenheimbesitzer, ist jedoch der rasante Anstieg der Hypothekenzinsen. Sie haben sich innerhalb der vergangenen zehn Tage verdreifacht, was viele Familien an den Rand des Bankrotts treibt.
"Die Zinsen gehen weltweit nach oben", sagt dazu Finanzminister Hunt, "wir werden versuchen sie zu bremsen, das ist das Beste, was ich tun kann". Aber er kann den Auftrieb nicht ungeschehen machen und wenn im Laufe des Winters die Bürger nicht nur mit gestiegenen Energiekosten kämpfen müssen sondern auch vom Verlust ihrer Häuser bedroht sind, dürfte sich eine konservative Regierung, sei es unter Liz Truss oder einem Nachfolger, kaum noch im Amt halten können.
Als mögliche Nachfolger werden übrigens der im Sommer bei der Ausscheidung gegen Truss unterlegene frühere Finanzminister Rishi Sunak genannt, die politisch wenig profilierte neue Fraktionsführerin Penny Mordaunt oder Verteidigungsminister Ben Wallace, von dem man nicht einmal weiß, ob er den vergifteten Kelch überhaupt will. Der Premierministerposten in London erscheint derzeit eher als Himmelfahrtskommando, denn als erstrebenswertes Amt. "Ich habe noch nie eine Regierung gesehen, die so einen katastrophalen Start hatte", sagte der frühere liberale Finanzminister Ken Clarke zum Chaos der vergangenen Wochen. Nach nur fünf Wochen im Amt, scheinen Liz Truss und ihr Kabinett bereits am Ende.