Aufgelesen – für Abtaucher
1. Dezember 2011Noch ist nicht Weihnachten, und trotzdem ist schon ein Wunder geschehen: Ich mag jetzt Gedichte. Jahrelang habe ich mich gegen sie gewehrt, ohne einen Grund nennen zu können. Ich mochte einfach keine Gedichte, so wie man auch die Oper nur lieben oder hassen kann. Gut, es war wie mit der Oper. Denn Ron Winkler hat mich überzeugt. Er hat sich die Mühe gemacht, 176 deutschsprachige Gedichte aus den vergangenen 100 Jahren zu sammeln, die sich alle mit Gefühlen rund um den Schnee beschäftigen. Plötzlich fühlte es sich so an, wie Albert Ehrenstein es beschreibt:
Albert Ehrenstein: Winter
Leise,
wie wider meinen Willen
fallen Flocken Schnee zu Boden.
Leise,
wie wider meinen Willen
falle ich zu Boden.
Wie wider meinen Willen bin auch ich eingeknickt und zu Boden gefallen: vor den Schneegedichten. Die sind kurz bis sehr lang, modern wie altmodisch, und das Abtauchen in Winterwelten und Kindheitserinnerungen funktioniert sogar, wenn die Sonne scheint.
Das Buch fühlt sich übrigens auch noch gut an, während man sich die Worte im Kopf zergehen lässt. Es ist nämlich aus dunkelblauem Velours und mit weißen Schneeflocken übersät. Wo die hinfallen, verändert sich was.
Robert Walser: Schnee (I)
Es schneit, es schneit, bedeckt die Erde
mit weißer Beschwerde, so weit, so weit.
Es taumelt so weh hinunter vom Himmel
das Flockengewimmel, der Schnee, der Schnee.
Das gibt Dir, ach, eine Ruh’, eine Weite,
die weißverschneite Welt macht mich schwach.
So dass erst klein, dann groß mein Sehnen
sich drängt zu Tränen in mich hinein.
Wem Flocken und Winter nicht behagen, der sollte die Klangwelt von Ulrike Almut Sandig und Marlen Pelny betreten. Die Autorin und die Singer-Songwriterin haben ihr erstes gemeinsames Album rausgebracht und loten darin die Grenzen zwischen Sprache und Musik aus.
Abtauchen in Wort-Klang-Konstrukte
Die Gedichte von Ulrike Almut Sandig verbinden sich mit den Klangideen von Marlen Pelny zu einer anregenden Mischung, die manchmal verblüfft, manchmal verwirrt, manchmal auch kurz nervt und einen dann doch wieder mitnimmt.
"Verloren ging mir ein Freund, dem ich weh getan hatte. Verloren ging mir ein zweiter, den hatte ich einfach so, grundlos – vergessen. Verloren ging mir jener grasgrüne Plastikring einer Freundin. Und etwas später ging mir verloren die Freundin an sich. Der genaue Grund weswegen ich sie verlor, ist mir ebenso und genauso grundlos, abhanden gekommen."
Wenn man sich in die Sandig-Pelny-Welt fallen lässt, flirrt nach einer Weile der Kopf. Worte wirken anders, weil sie ungewohnt betont werden und Klänge aufschießen, die man nicht erwartet. Manchmal will man mitsingen und -tanzen, aber bevor man sich zu sehr an ein Gefühl gewöhnt hat, drehen die beiden Damen einem das Hirn wieder in eine andere Richtung. Hört sich ein bisschen anstrengend an, tut aber gut.
Unter Dir die Erde, die sich immer dreht. über dir
der Scherenschnitt der Bäume gegen die steil
aufgerichtete Sonne. der Himmel ist sperrangelweit
ein Mond dreht sich mit. hinter dir die mit Eis
bedeckten, geräuschlosen Gipfel aus Stein. vor dir
das Geschiebe der Wolken, drunter liegt dein
Zuhause, das hast du dir selber gedichtet. in dir
die Nadel, die zittert und immer hinzeigt
auf Norden, obwohl du nicht weißt, was da liegt.
Autorin: Marlis Schaum
Redaktion: Gabriela Schaaf
Ron Winkler (Hrsg.): "Schneegedichte", Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, 208 Seiten, ISBN 978-3-89561-215-2, 14,95 Euro
Ulrike Almut Sandig, Marlen Pelny: "Märzwald. Dichtung für die Freunde der Popmusik", Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, 1 Audio CD, Gesamtlaufzeit 47 Minuten, ISBN 978-3-89561-187-2, 14,95 Euro.