1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Atomkraftwerke - kaum Schutz durch Völkerrecht

1. Oktober 2022

Um das Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine wird gekämpft. Gezielt oder versehentlich könnte eine nukleare Katastrophe ausgelöst werden. Das Völkerrecht schützt nur bedingt. Und nun die Entführung des AKW-Chefs.

https://p.dw.com/p/4HSx3
Blick auf die sechs Reaktoren des Kernkraftwerks Saporischschja
Die sechs Reaktoren des Kraftwerks Saporischschja liefern in Friedenszeiten zusammen bis zu 5700 Megawatt, so viel wie kein anderes Atomkraftwerk EuropasBild: Dmytro Smolyenko/imago images

Mit Sorge blickt die Welt auf das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja. Es ist das größte Kernkraftwerk Europas und liegt direkt an der Front in der Südukraine am Unterlauf des Dnjepr. Im März hatten russische Truppen das Kraftwerk in ihre Gewalt gebracht, seitdem wird es immer wieder beschossen; beide Seiten machen sich gegenseitig dafür verantwortlich.

Die allgemeine Beunruhigung wird durch die Meldung verstärkt, dass der Chef des Atomkraftwerks, Ihor Muraschow, nach ukrainischen Angaben von Moskauer Truppen entführt wurde. Das teilte der Präsident der Betreibergesellschaft Enerhoatom, Petro Kotin, mit. Muraschow wurde demnach am Freitag von einer russischen Patrouille am AKW-Standort Enerhodar auf der Straße gestoppt, aus dem Auto gezerrt und mit verbundenen Augen an einen unbekannten Ort gebracht.  Die russischen Behörden geben nach Darstellung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) an, ihn für Befragungen vorübergehend festgenommen zu haben.

"Atomaren Unfall vermeiden"

Rafael Grossi, der Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), bemüht sich weiter um eine entmilitarisierte Sicherheitszone um das Atomkraftwerk Saporischschja.

Infografik Karte mit Kernreaktoren in der Ukraine
Saporischschja ist nicht das einzige, aber das mit Abstand größte ukrainische Atomkraftwerk

"Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um einen atomaren Unfall zu vermeiden", sagte Grossi bei der Jahrestagung der IAEA-Mitgliedstaaten in Wien: "Wenn dort etwas passiert, werden wir keine Naturkatastrophe dafür verantwortlich machen können, sondern nur unsere eigene Untätigkeit."

Die IAEA konnte Anfang September eine Beobachtermission zum Kraftwerk entsenden, das nach wie vor von ukrainischen Technikern betrieben wird - aber unter den Augen russischer Soldaten.

IAEA-Direktor Grossi spricht in Mikrophone
IAEA-Direktor Grossi versucht, eine Sicherheitszone um das Kraftwerk herum auszuhandeln, bisher vergeblichBild: Metin Aktas/AA/picture alliance

Bis auf zwei Mitglieder reiste die IAEA-Delegation danach wieder ab. Die Angriffe auf die Anlage gingen trotzdem weiter. Die Atomenergiebehörde nannte das Unfallrisiko in ihrem Untersuchungsbericht "signifikant".

Erstaunlich genaue Regeln

Doch es geht nicht nur um einen möglichen Unfall. Ein Atomkraftwerk kann auch Kriegsziel sein. Und unter bestimmten, sehr eng begrenzten Umständen ist das sogar vom Völkerrecht gedeckt.

Dazu gibt es erstaunlich detaillierte Regeln. Sie wurden 1977 im 1. Zusatzprotokoll zum Genfer Abkommen festgelegt, das die Austragung bewaffneter Konflikte regelt und Schäden für die Zivilbevölkerung minimieren soll. Weil die Russische Föderation und die Ukraine Vertragsparteien sind und keine Vorbehalte geäußert haben, gelten die Regelungen für beide Staaten.

Zahlreiche Personen sitzen und stehen hinter einem Tisch mit Dokumentenmappen
Die Genfer Konvention (hier die Unterzeichnung 1949) regelt die Austragung bewaffneter Konflikte, in einem Zusatzprotokoll von 1977 gibt es auch Ausführungen zum Umgang mit Atomkraftwerken im KriegBild: ICRC Archives (ARR)/J. Cadoux

In Artikel 56 des Zusatzprotokolls steht, dass Kernkraftwerke nicht angegriffen werden dürfen, "auch dann nicht (…), wenn sie militärische Ziele darstellen, sofern ein solcher Angriff gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann". Gedacht ist hier zweifellos an radioaktive Strahlung.

Hier geht es um einen der Grundsätze des humanitären Völkerrechts: die Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen. Nur militärische Ziele dürfen angegriffen werden und auch diese nur unter bestimmten Voraussetzungen. Die Zivilbevölkerung ist in jedem Fall zu schützen.

Kernkraftwerke als "Unterstützer von Kriegshandlungen"

Aus dem Passus geht aber auch hervor, dass Angriffe auf Atomkraftwerke nur dann geächtet sind, "sofern ein solcher Angriff gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann". Das heißt: Ist dies nicht zu erwarten, kann ein Angriff unter Umständen erlaubt sein.

In Absatz 2 ist sogar festgelegt, welche Umstände das sein können, nämlich wenn die Kraftwerke "elektrischen Strom zur regelmäßigen, bedeutenden und unmittelbaren Unterstützung von Kriegshandlungen liefern und wenn ein solcher Angriff das einzige praktisch mögliche Mittel ist, um diese Unterstützung zu beenden".

Zwei Personen in dunklen Anzügen, Westen und Kappen blicken auf ein zerstörtes Gebäude
Die Gegend um das Kraftwerk ist heftig umkämpft. In der Stadt Saporischschja schlug vergangene Woche eine Rakete auf einem Parkplatz einBild: Dmytro Smolienko/Ukrinform/picture alliance/abaca

Die Hamburger Juristin Anne Dienelt schrieb bereits im März nach der russischen Einnahme von Saporischschja im "Völkerrechtsblog": "Es kann Konstellationen geben, in denen der militärische Vorteil durch einen Angriff überwiegt, selbst bei Atomkraftwerken. Berücksichtigt wird hier auch, dass Kernkraftwerke sogenannte Dual-use-Objekte darstellen können, also der zivilen und militärischen Nutzung zeitgleich dienen."

Oberstes Ziel: Schutz der Zivilbevölkerung

Aber ein Angriff auf ein Atomkraftwerk müsste, um vom Völkerrecht gedeckt zu sein, außerdem "das einzige praktisch mögliche Mittel" sein, um die Unterstützung der Kriegshandlungen zu beenden.

Person in Militärkleidung und Handschuhen hält einen Geigerzähler in den Händen
Ein russischer Soldat misst die Radioaktivität beim Kraftwerk. Bisher war sie angeblich unbedenklichBild: Konstantin Mihalchevskiy/SNA/IMAGO

Anne Dienelt legt das so aus: "Auch wenn es schwerfällt, in einem solchen Fall über 'mildere' Mittel nachzudenken, kann das humanitäre Völkerrecht aufgrund des militärischen Vorteils eine solche Aktion gewähren."

Sie differenziert: "Bevor also das Atomkraftwerk und seine Reaktoren rechtmäßig angegriffen werden dürfen, könnten mit weniger gravierenden Folgen als bei einer nuklearen Katastrophe zunächst die Infrastruktur zum Atomkraftwerk (bspw. Stromleitungen oder Transformatoren) rechtmäßig angegriffen werden, um damit die Energiezufuhr der gegnerischen Streitkräfte einzuschränken. (…) Das 'Unbrauchbarmachen' ist schließlich nicht durch Art. 56 des 1. Zusatzprotokolls verboten."

Wobei Dienelt darauf hinweist, dass auch eine Unterbrechung der Stromversorgung für die Bevölkerung, vor allem im Winter, schwerwiegende Folgen haben könnte.

Zwei Hände mit lackierten Fingernägeln halten Jodtabletten in der Hand
In Schulen in Saporischschja wurden bereits Jodtabletten verteilt - für den Fall von StrahlenbelastungBild: Leo Correa/AP Photo/picture alliance

Dazu kommt, dass Kernkraftwerke nicht nur Strom erzeugen, sie brauchen ihn auch selbst zur Kühlung. Als Anfang September die Stromzufuhr in Saporischschja durch Kampfhandlungen zerstört wurde, musste auch der letzte der sechs Reaktoren heruntergefahren werden. Dieselaggregate lieferten den Strom für die Kühlung, aber das war kein Dauerzustand. Die Leitungen wurden repariert. Ein längerfristiger Ausfall der Kühlung würde irgendwann zu einem schweren Atomunfall führen.

Neue Situation durch Schein-Referenden

Die Regeln des Völkerrechts sind im Krieg meist reine Theorie. Wie wenig sie auch im Ukraine-Krieg gelten, zeigen etwa die Hinweise auf schwerste Kriegsverbrechen in Butscha im Frühjahr und in den vergangenen Wochen bei Charkiw.

Was den Auseinandersetzungen um das Atomkraftwerk Saporischschja jetzt eine neue Wendung gibt, sind die umstrittenen sogenannten Volksabstimmungen in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine, auch in der Provinz Saporischschja. Wegen Einschüchterung der Menschen und Vertreibungen sprechen Beobachter von Schein-Referenden. Nach russischen Angaben haben sich die Bewohner Saporischschjas zu 93 Prozent für einen Beitritt zur Russischen Föderation ausgesprochen.

Im Vordergrund der Rücken eines Soldaten mit einem Gewehr über der Schulter, im Hintergrund mehrere Frauen mit Abstimmungsunterlagen
Bewaffnete Soldaten begleiten die Abstimmungen in den eroberten Gebieten über einen Beitritt zu RusslandBild: AA/picture alliance

Das Gebiet wurde inzwischen von Russland annektiert. Damit wären ukrainische Rückeroberungsversuche nach Lesart des Kreml Angriffe auf Russland. Vergangene Woche deutete Präsident Wladimir Putin an, er sei bereit, Atomwaffen einzusetzen, um die "territoriale Integrität" Russlands zu verteidigen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj will dagegen alle russisch besetzten Gebiete einschließlich der Krim zurückerobern.

Das Kernkraftwerk Saporischschja liegt nach der russischen Annexion der eroberten Gebiete genau an der "Grenze" - und damit an der Front. Die nukleare Bedrohung bleibt - nicht nur durch russische Atomwaffen, sondern auch durch eine bewusste oder versehentliche Zerstörung des größten Kernkraftwerks Europas.

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik