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Argentinien hat die Wahl

Detlev Karg28. April 2003

In Buenos Aires ziehen abends zerlumpte Menschen durch die Straßen, im Wettlauf mit der Müllabfuhr. Sie suchen nach allem was ess- und verwertbar ist. Auf den künftigen Präsidenten Argentiniens warten Herkulesaufgaben.

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Sojabohnen für's liebe Vieh: Agrarexporte helfen ArgentinienBild: AP

Cartoneros, so heißen die verarmten Arbeiter, die sich nun als Lumpensammler durchschlagen, im Volksmund. Sie sind in der Hauptstadt des einst reichsten Lands Südamerikas nur das sichtbare Zeichen der noch fortdauernden Wirtschaftskrise. Mehr als 50 Prozent der Argentinier lebten nach dem Absturz von Währung und Wirtschaft im vergangenen Jahr unterhalb der Armutsgrenze.

Zarte Zeichen einer Erholung

Nur ganz langsam zeichnet sich eine Genesung der Wirtschaft aus eigener Kraft ab. Die Produktion in Hinterhöfen und alten Fabriken kommt in Gang. Die drittgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas erholt sich Schritt für Schritt, doch bis zum Wohlstand vergangener Tage ist es noch ein weiter Weg. "Argentinien steht eineinhalb Jahre nach der Krise nicht besser da. Die wichtigsten Symptome der Krise sind zwar kuriert worden; die Fundamentaldaten haben sich aber nur geringfügig verbessert. Einziger Lichtstreif am Horizont sind die Wahlen am 27. April", so die verhaltene Einschätzung von Federico Foders, Lateinamerikaexperte am Institut für Weltwirtschaft (IfW) der Universität Kiel im Gespräch mit DW-WORLD.

Einige Zahlen verdeutlichen das. Schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im vergangenen Jahr noch um elf Prozent, so hat der Internationale Währungsfonds (IWF) dem südamerikanischen Land für 2003 wieder drei Prozent Wachstum vorausgesagt. Als richtig hat sich erwiesen, die mehr als zehnjährige Dollarbindung des Peso im Verhältnis eins zu eins aufzuheben. Der Peso wertete um etwa 60 Prozent ab, das half den Exporten.

Allerdings hat jetzt ein Gericht das Aufheben der Dollarbindung kassiert. Die Sparer, die dadurch ihr Geld verloren, sollen entschädigt werden. Fraglich bleibt, wie der Staat den Menschen das verlorene Geld zurückzahlen soll, ohne die Krise erneut zu forcieren. Immerhin betrug der Handelsbilanzüberschuss im ersten Quartal 2003 umgerechnet 1,44 Milliarden Euro und der Trend setzt sich fort. Agrarprodukte sind die Exportschlager, zugleich erholt sich die heimische Produktion angesichts der Verteuerung der Importe. Alles was im Inland hergestellt werden kann, gelangt in die Regale und verdrängt dort Billig-Importe aus China ebenso wie Luxusgüter Made in Germany.

Hoffen auf den Lula-Effekt?

Die Sparer bleiben derweil diszipliniert. Die Freigabe der Ende 2001 teilweise eingefrorenen Konten hat nicht zu dem befürchteten massiven Abfluss von Kapital aus den Banken geführt. 154 Milliarden Dollar Schulden hat das Land jedoch noch und eine neugewählte Regierung, gleich welcher Couleur, muss die Bonität Argentiniens stärken. Schwierige Umschuldungsverhandlungen stehen ins Haus. "Erst nach dem Antritt der neuen Regierung ist mit der Aufnahme von ernsthaften Verhandlungen mit den privaten Gläubigern zu rechnen. Und diese Verhandlungen werden letztlich darüber entscheiden, ob Argentinien erneut Zugang zum internationalen Kapitalmarkt erhalten oder auf absehbare Zeit ein Fall für die öffentliche Entwicklungshilfe bleiben wird", ist sich IfW-Experte Foders sicher.

Dem Währungsfonds IWF komme dabei eine Schlüsselrolle zu. "Der IWF hat sich dazu entschlossen, dem Land weitere Mittel zur Verfügung zu stellen, damit es den Schuldendienst gegenüber den öffentlichen Gläubigern nicht zu unterbrechen braucht. Man ist vor den Wahlen bemüht, günstige Voraussetzungen für die neue Regierung zu schaffen. Der Vertrauensvorschuss, den beispielsweise Brasilien genossen hat, hat sich offensichtlich positiv auf die dortige Entwicklung nach der Wahl Lulas ausgewirkt. Er könnte in Argentinien eine ähnliche Wirkung entfalten", hofft Foders.

Kein dankbarer Beruf: Argentinischer Präsident

19 Kandidaten bewerben sich um das höchste Staatsamt, nachdem das Land seit fast eineinhalb Jahren von dem vom Kongress bestimmten Präsidenten Peronisten Eduardo Duhalde geführt wird. Regelrechter Hass schlägt dabei dem rechtskonservativen Kandidaten Carlos Menem von vielen Menschen entgegen. Menem regierte das Land von 1989 bis 1999 schon einmal. 57 Prozent der Befragten geben in Umfragen an, ihn auf keinen Fall zu wählen. Für sie ist der 72-Jährige der Inbegriff für Korruption und rücksichtslosen Neoliberalismus. Dennoch führt er mit rund 18 Prozent die Meinungsumfragen unter den Kandidaten an. Statt an die Skandale scheinen sich einige Argentinier lieber an die niedrige Arbeitslosigkeit und den erfolgreichen Kampf gegen die Hyperinflation unter Menem zu erinnern.

Ein Hoffnungsträger unter vielen Kandidaten

Neben Menem haben vier weitere Kandidaten Chancen, in die Stichwahl zu kommen. Wirtschaftliche Kompetenz hingegen kann nur einer von ihnen vorweisen: Der in den USA ausgebildete Ökonom Ricardo López Murphy rangiert in Umfragen auf Platz drei. Dank wachsender Unterstützung aus Unternehmerschaft und Mittelschicht konnte der 52-Jährige in den Meinungsumfragen beständig zulegen. Die wirtschaftspolitischen Ansätze des ehemaligen Beraters von Weltbank und Internationalem Währungsfonds unterscheiden sich nicht wesentlich von Menems neoliberalem Kurs, doch belasten Murphy im Gegensatz zu Menem keine Korruptionsvorwürfe. "Allein López Murphy und seine neue Partei stehen als Garant für eine marktwirtschaftliche Reformpolitik", so die Analyse von Federico Foders. Die 25,5 Millionen Wahlberechtigten indes verfolgen den Wahlkampf eher mit Apathie, Zynismus und Skepsis. Die Argentinier sind von ihrem Staat gründlich enttäuscht.