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LiteraturKosovo

15 Essays über den Zerfall Jugoslawiens

29. März 2021

1991 markierte den Anfang vom Ende Jugoslawiens. 30 Jahre später fragen sich Literaturschaffende, was vom gemeinsamen Staat übrig geblieben ist.

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Ein Kind steht hinter einer Flagge bei der Enthüllung einer Tito-Statue
Ein Kind bei der Enthüllung einer Tito-Statue 2019 in Montenegro Bild: Savo Prelevic/Getty Images/AFP

Jugoslawien, der blockfreie Vielvölkerstaat im Südosten Europas, war ein relativ liberales sozialistisches Land. Die Grenzen waren offen, die Menschen durften reisen, und Touristen waren willkommen. Die Betriebe waren meist ökonomisch erfolgreich und nicht zentralstaatlich verwaltet, das Bildungsniveau war hoch. Doch nach dem Tod des langjährigen Staatschefs Josip Broz Tito begann die Fassade zu bröckeln - Unzufriedenheit und nationalistische Tendenzen fanden in einer schweren Wirtschaftskrise ihren Nährboden und rüttelten am Fundament des Landes. Das Jahr 1991 markierte das Ende Jugoslawiens. Es war der Anfang einer Reihe blutiger Kriege, die 30 Jahre später immer noch nachhallen sollten.

15 Autoren und Autorinnen aus den ehemaligen Teilrepubliken erzählen im Essayband "Archipel Jugoslawien" über die Erinnerungen an damals, die Lasten von heute und die Hoffnungen von morgen.

Der Vergangenheit entfliehen

"Die Trennlinie zwischen denen, die von der Revolution träumten, und denen, die die Revolution machten, verlief ein paar Kilometer hinter unserem Haus. Aber was unvorstellbar ist, kann nicht passieren - bis es wirklich passiert", schreibt die kosovarische Autorin Blerina Rogova Gaxha in ihrem Essay "Das leichte Leben". "Meine Eltern erzählten von schönen Reisen, Studium in anderen jugoslawischen Republiken, fester Arbeit, vom 'leichten Leben', doch für mich und für meine Generation war das nur eine Illusion", sagt Blerina Rogova Gaxha im DW-Interview. Die Dichterin, Journalistin und Literaturwissenschaftlerin ist 1982 im Kosovo geboren, ihre Kindheit war geprägt von Angst und Mangel.

Blerina Rogova Gaxha, Schriftstellerin aus dem Kosovo, lächelt in die Kamera
Die kosovarische Schriftstellerin und Dichterin Blerina Rogova Gaxha ist eine der Autorinnen von "Archipel Jugoslawien"Bild: Miran Pflaum

"Wenn ich irgendwo auf Wänden den Schriftzug "Kosova Republikë" lese, erinnere ich mich an die Zeit, als ich noch acht oder neun Jahre alt war. Damals war es verboten und gefährlich, diese Worte in der Öffentlichkeit zu schreiben."

Kosovo hat sich 2008 von Serbien unabhängig erklärt. Die internationale Gemeinschaft reagierte darauf unterschiedlich: Länder wie die USA, Deutschland und Frankreich erkannten die Unabhängigkeit schnell an, doch auch 13 Jahre danach gibt es Staaten, darunter Spanien, Rumänien, die Slowakei, Griechenland, Zypern, Russland und China, die das Kosovo noch nicht anerkannt haben. Auch internationale Organisationen wie etwa die UN-Kulturorganisation UNESCO lehnten einen Beitritt ab.

Schriftzug "Republik Kosova"
Heute stehen diese Worte an vielen öffentlichen Wänden im Kosovo, das sich vor 13 Jahren für unabhängig erklärt hatBild: DW/R. Breuer

"Ich hatte eine politische Kindheit, wir waren in die Politik involviert, ohne dass uns je einer gefragt hat, ob wir es wollen", sagt Blerina Rogova Gaxha im DW-Gespräch. Die Vergangenheit sei noch präsent, manchmal klappe die Flucht vor ihr, und manchmal sei sie einfach da, und man könne sie nicht in einem Schrank verstecken.

Der Blick nach vorn

Die Lösung für ein friedliches Miteinander sieht Blerina Rogova Gaxha in der Kultur: "Ich bin glücklich, dass ich auf meinen Reisen ins Ausland die Möglichkeit habe, Schriftsteller und Dichter aus den anderen jugoslawischen Republiken zu treffen, aber was fehlt, ist eine bilaterale Kooperation zwischen kosovarischen und serbischen Kulturschaffenden. Wir müssen miteinander reden, Brücken bauen, die Vergangenheit von allen Seiten verstehen, nicht nur die eigene Perspektive - sondern gemeinsam in die Zukunft schreiten."

Kosovo Buch Thase von Rogova Gaxha
Die Last der Vergangenheit: "Thasë" (auf Deutsch: Säcke) ist das aktuelle Buch von Blerina Rogova GaxhaBild: Miran Pflaum

Doch gegenwärtig leben Kosovo-Albaner und Serben praktisch getrennt. Das wohl bekannteste Beispiel ist Mitrovica: Im Süden der Stadt leben Kosovo-Albaner, den Norden bewohnen Serben. Dazwischen fließt der Ibar, die berühmte Mitrovica-Brücke trennt die Stadt. Ein gemeinsames Kulturleben - praktisch unvorstellbar. Organisationen wie die "Mitrovica Rock School" versuchen, Jugendliche aus beiden Teilen der Stadt musikalisch zu fördern. Ein schwieriges Unterfangen. Gemischte Bands sind eine Seltenheit.

Ein Leben im Wartemodus

In Prijedor, Republika Srpska (Bosnien und Herzegowina) lebt der 53-jährige Darko Cvijetić ("Schindlers Lift"). Der Theaterregisseur und Dichter hat den Krieg in Bosnien und Herzegowina erlebt: "Mein Vater, ein Serbe, und meine Mutter, eine Kroatin, haben 1997 zusammen mit meinem jüngeren Bruder, der sehr traumatisiert war, Bosnien und Herzegowina verlassen. Ich bin geblieben. Schlimmer konnte es nicht werden, dachte ich damals. Ich war ein Optimist. Aber die anderen, die weggegangen sind, haben kapiert, was ich in meinem starken Optimismus übersehen habe. Ich dachte, alle Probleme würden im 20. Jahrhundert bleiben. Ich habe mich getäuscht. Wir leben in einem Land, wo sich Unterschiede festgesetzt haben, und es gibt Menschen, denen diese Unterschiede in die Hände spielen. Wir leben in einem kontinuierlichen Kriegszustand. Es ist kein bewaffneter Krieg, nein, vielmehr ein leiser, unterschwelliger Konflikt", sagt Darko Cvijetić im DW-Interview.

Die Last der Vergangenheit

In seiner Heimatstadt Prijedor und Umgebung hat 1992 eines der schlimmsten Kapitel des Balkankrieges stattgefunden, als serbische Truppen Massaker an der muslimischen und kroatischen Zivilbevölkerung verübten.

Bosnien beerdigt 86 Opfer des Krieges von 1992-1995
Auch viele Jahre nach Kriegsende werden noch Massengräber entdeckt. 2019 wurden in Prijedor 86 Opfer des Krieges von 1992 - 1995 beigesetztBild: picture-alliance/AA/S. Yordamovic

"Diese Stadt ist belastet mit Geschichte. Es gibt viele Narrative, aber es fehlt ein universelles Narrativ, ein gemeinsamer Blick auf die Geschichte. Wir warten auf eine weniger belastete Generation, dies zu klären."

In seinem Essay "Drohnenflug" für "Archipel Jugoslawien" schreibt Darko Cvijetić: "Es ist zu viel Zeit vergangen, und bald wird niemand mehr da sein, um eine Schande anzuerkennen und zu akzeptieren. Es scheint, das kollektive Gedächtnis wartet geradezu darauf. Dass niemand mehr da ist, der etwas zugeben könnte, und dass niemand da ist, dem gegenüber man etwas zugeben könnte."

"Wie der Soldat das Grammofon repariert" von Saša Stanišić

Andere Autorinnen und Autoren wie Tomislav Marković aus Serbien oder Rumena Bužarovska aus Nordmazedonien schreiben über die Nachwehen des Krieges, der ihr gemeinsames Land zerstört hat. "Die meisten Autoren und Autorinnen haben sofort zugesagt, und wollten ihren Beitrag schreiben. Doch vielleicht hat mich am meisten die Reaktion eines Schriftstellers gerührt und überrascht, der mit diesen Worten eine Absage gab: 'Ich habe dazu nicht viel zu sagen, außer dass ich Scham und Melancholie empfinde...und halte einen neuen Krieg nicht für ausgeschlossen'", erzählt Hana Stojić, Ideengeberin und Koordinatorin des Projekts "Archipel Jugoslawien", das im Rahmen der diesjährigen Leipziger Buchmesse online präsentiert wird.

Alle 15 Essays sind ab dem 30.03. bis Ende Mai online zu lesen.

 

DW Mitarbeiterportrait | Rayna Breuer
Rayna Breuer Multimediajournalistin und Redakteurin