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Als Ärzte zu Mördern wurden

Olivia Kortas
12. Februar 2020

Kinder der NS-„Heilanstalt Lublinitz“ bekommen hohe Dosen an Schlaftabletten verabreicht und sterben. Ihre "Schuld": Sie sind geistig behindert. Dr. Elisabeth Hecker entscheidet wörtlich über Leben und Tod.

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Elisabeth Hecker
Die ehemalige "Abteilung B" der Heil- und Pflegeanstalt in Lublinitz.Bild: Sebastian Ziółek

Als Mädchen besuchte Zofia Podzorska die Gräber ihrer Schwestern jede Woche. "Aber das Grab des Jungen fehlte", sagt die 75-Jährige. "Der Junge" war ihr Bruder Stanislaw. Er verstarb 1943 im Alter von elf Jahren, drei Jahre vor Podzorskas Geburt. "Ich wusste, dass zwei meiner Schwestern früh erkrankten und nicht überlebten", erinnert sich Podzorska. "Über den Jungen erzählten meine Eltern nur, dass er in der Heilanstalt Lublinitz war". 

In Lublinitz (polnisch: Lubliniec), gut hundert Kilometer von Podzorskas Wohnort entfernt, liegt Stanislaw in einem Massengrab. Auf dem Friedhof hinter dem Gelände der Klinik wuchert Gras über die Steinrahmen der Gräber. Hier brennen keine Kerzen, hier liegen kaum Blumen. Eine Blechtafel bezeichnet den verlassenen Ort als "Platz des Nationalen Gedenkens". Darunter steht "Massengrab für 194 Kinder - Opfer eines Experiments, durchgeführt von den Nationalsozialisten in den Jahren 1942-1944".

Polen Doktor Elisabeth Hecker
...und bat den Reichsausschuss darum, "die Ermächtigung bald zu bekommen". Dr. Elisabeth Hecker.Bild: Hans-Werner Kersting

Kinder wie Stanislaw Polok belasteten in den Augen der Nationalsozialisten die Gesellschaft. Stanislaw hatte Epilepsie. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, so erzählte es der Vater Jahre später bei einer Vernehmung, verbesserte sich sein Zustand. Doch im Jahr 1942 wurde Stanislaw nach Lublinitz geschickt. "Wir wollten uns damit nicht einverstanden erklären, es wurde uns aber eröffnet, dass dies eine Verfügung der Behörden sei", erzählte der Vater den Ermittlern.

"Tötungsermächtigung" für die Ärzte

Auf Wunsch Hitlers mussten Ärzte Patienten mit psychischen Krankheiten und Fehlbildungen melden. Gutachter entschieden dann, ob sie ermordet werden sollten. Dann schickte der Reichsausschuss eine "Tötungsermächtigung" an die Ärzte: "Einer Behandlung des Kindes aufgrund der einschlägigen Bestimmungen … steht nichts im Wege". Auch eine deutsche Ärztin der Heilanstalt Lublinitz verwendete den Jargon. In einem Schreiben meldete Dr. Elisabeth Hecker einen Jungen und bat den Reichsausschuss darum, "die Ermächtigung bald zu bekommen".

Jan Polok fühlte sich unwohl, als er seinen Sohn zum ersten Mal in Lublinitz besuchte. "Anfangs wollte man ihn mir nicht zeigen", sagte er aus, "aber dann wurde er angekleidet und zu mir geführt". Die Ärzte machten ihm keine Hoffnung auf Genesung. "Von Anfang an nahmen wir an, dass mit ihm etwas vorgenommen worden ist", sagte Polok 26 Jahre später zu den Ermittlern. Sein Sohn sei immer kräftig gewesen, plötzlich wirkte er schwach. Am 4. September 1943 starb Stanislaw Polok, für die Eltern war es ein Schock.

Polen Friedhof hinter der neuropsychiatrischen Klinik in Lublinitz
Friedhof und Gedenktafel hinter der neuropsychiatrischen Klinik in Lublinitz.Bild: DW/O. Kortas

Zofia Podzorska erfuhr erst durch unsere Recherche, dass ihr Bruder gezielt ermordet wurde.

Schlafmittel zum Töten

Die Deutschen übernahmen die Heilanstalt Lublinitz in den ersten Tagen der Besatzung. Im Herbst 1941 entstand die "Jugendpsychiatrische Abteilung" unter Leitung von Elisabeth Hecker. Zusammen mit drei Assistenzärztinnen diagnostizierte sie Neuankömmlinge, bevor sie sie auf andere Stationen überwies. Unheilbar Kranke schickte Hecker in die "Abteilung B". Dort, auf einem alten Gutshof abseits des Klinikgeländes, verabreichte Ernst Buchalik den jungen Patienten Luminal in Tablettenform.

Laut Buchalik, Leiter der Heilanstalt, sollte das Schlafmittel die Kinder vor Selbstverletzung schützen. Allerdings benutzten Ärzte Luminal gerne als Mittel zur Euthanasie. Auch Ernst Buchalik war in die Führerkanzlei und die Kinderfachabteilung Brandenburg-Görden gebeten worden. Dort wiesen die Nationalsozialisten ihn in die Methoden der Kindereuthanasie ein. Buchalik lernte, wie er Kinder mit einer hohen Dosierung töten kann.

In einem Notizheft hielten die Pflegerinnen in Lublinitz fest, wie viel Luminal sie den Kindern verabreichten. Demnach erhielten 235 Kinder im Alter von 1 bis 14 Jahren Luminaltabletten. Von diesen 235 Kindern starben 221. Die Staatsanwaltschaft Dortmund eröffnete 1965 ein Ermittlungsverfahren gegen Ernst Buchalik, Elisabeth Hecker, vier Assistenzärzte und -ärztinnen und acht Pflegerinnen. Auf Hecker lastete ein schwerer Verdacht. Denn sie war es, die entschied, welche Kinder in die "Abteilung B" kamen und welche nicht.

Strebsame Ärztin

Hecker war eine strebsame Ärztin. Sie war nicht verheiratet, hatte keine Kinder, für ihr Medizinstudium und ihre Ausbildung wechselte sie oft ihren Wohnort. "Ich frage mich, ob dieser Status als unverheiratete, kinderlose Ärztin mit ihrem Wirken zusammenhing", sagt der Historiker Franz-Werner Kersting, der sich mit der Geschichte Heckers beschäftigt hat. "Sie klang einsam und identifizierte sich sehr mit ihrem Arbeitsumfeld."

Befragungsbogen Doktor Elisabeth Hecker
Fragebogen der Todesärztin Elisabeth Hecker.Bild: Archiv LWL/Best. 132/402

Hecker kam 1941 als 46-Jährige nach Lublinitz. Sie wusste, dass sie ihren Fachbereich unter den Nationalsozialisten ausweiten konnte und nutzte das aus. "In einem Aufsatz aus der NS-Zeit sagt sie etwas verklausuliert, dass sie die Gehirne der ermordeten Kinder zu Forschungszwecken verwendet", so Kersting. "Auch für die damalige Zeit ist das offen formuliert."

Belastende Aussagen

"Als wir Dr. Buchalik sagten, dass ein Kind schon ruhig war und man kein Luminal mehr verabreichen musste, forderte er uns auf, weiterhin die gleichen Dosen zu verabreichen", sagte Agnieszka Mastalerz 1967 aus. Seit März 1924 arbeitete sie als Pflegerin in Lublinitz. "Dr. Elisabeth Hecker musste ganz genau wissen, dass die Kinder durch Luminal ermordet wurden, wo sie doch entschied, welche Kinder in die "Abteilung B" kommen sollten."

Auch Dokumente aus der Besatzungszeit bezeugen Heckers Schuld. Darunter befindet sich ein Schreiben des Reichsausschusses: Eine Ermächtigung zur "Behandlung" dreier Kinder sei noch nicht erteilt, steht darin. In einem anderen Schreiben teilte Hecker dem Reichsausschuss mit, sie habe ein Kind auf die "Kinderfachabteilung" verlegt. So bezeichneten die Nationalsozialisten die Euthanasie-Abteilungen.

Karriere im Nachkriegsdeutschland

Stanislaw Poloks Eltern waren schockiert, doch in den Nachkriegsjahren war für Trauer keine Zeit. Währenddessen machte Hecker Karriere. Sie floh 1945 nach Deutschland. "Sie fiel unter Paragraph 131 des Grundgesetzbuchs, nach dem aus Polen geflohene Beamte rehabilitiert und eingegliedert wurden", erklärt Kersting. Hecker kam nach Siegen in Westfalen, an einen Ort, an dem sie keiner kannte. Sie konnte neu anfangen, zu einer Zeit, in der niemand unangenehme Fragen stellte.

Polen Gedenktafel am Massengrab von Kindern in Lublinitz
Letzte Erinnerung an die toten Kinder von Lublinitz.Bild: DW/O. Kortas

In der sogenannten Stunde Null sahen sich viele Deutsche selbst als Opfer. Die Nazis, das waren die anderen. "Anfang der 1950er Jahre hatte man sogar Mitleid mit belasteten Ärzten", so Kersting. "Je länger die Euthanasie-Prozesse andauerten, desto öfter hieß es: Wie kann man das den Beschuldigten so lange zumuten?" Den Besatzungsmächten war zudem bewusst, dass es im Land an Medizinern mangelte. Aufgrund der Mangelwirtschaft, den vielen Verletzten brauchten sie jeden Arzt.

Hecker galt schnell als Vorreiterin auf ihrem Gebiet. In Gütersloh baute sie 1952 eine Klinik für Jugendpsychatrie auf. Sie wurde 1979 als Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie gewürdigt. Erst, als sie Jahre später mit Kindereuthanasie in Verbindung gebracht wurde, verlor sie diese. Das Verfahren gegen sie wurde 1969 eingestellt.

Aus der Reportage-Reihe "Schuld ohne Sühne", ein Projekt von DW Polnisch mit Interia und Wirtualna Polska. dw.com/zbrodniabezkary