Die Wartelisten sind lang, die Termine direkt ausgebucht und das trotz Aufstockung der Kapazitäten. Die Zahl der Kirchenaustritt in Deutschland steigt. Doch es gibt auch Faktoren, die Menschen an die Kirche binden.
Nicht nur im Erzbistum Köln treten scharenweise Menschen aus der katholischen Kirche aus. Deutschlandweit hält der Trend an – genaue Zahlen für die Jahre 2020 und 2021 werden die Statistiken zeigen. Und auch wenn die Taufzahlen zwischen 2010 und 2020 nur leicht rückläufig sind, klafft die Kluft zwischen Taufe und Austritt seit 2017 immer weiter auseinander. Ein weiterer Faktor für den Mitgliederrückgang sind Überalterung und Geburtenrückgang. Die viel größere Anzahl liegt allerdings im zurückgegangenen Bindungsverhalten vieler Menschen an die Institution Kirche. Davon sind beide großen christlichen Kirchen in Deutschland gleichermaßen betroffen.
Die Faktoren, die dazu führen, liegen auf der Hand. Säkularisierungstheorien sprechen davon, dass Weltbilder sich ändern, Unsicherheiten müssen nicht mehr anhand von Institutionen gelöst werden, die vorgeben, wie das Leben zu sein hat. Und auch religiöse Menschen suchen sich häufig aus mehreren Religionen und Traditionen das heraus, was ihnen sinnvoll für ihr Leben erscheint. Das Bindungsverhalten im Sinne einer inneren Verpflichtung geht zurück.
Kriterien, sich gegen eine Kirchenbindung zu entscheiden sind beispielsweise vom Zentrum für angewandte Pastoralforschung in Bochum untersucht worden.
Zu den TOP 5 gehören:
Doch bevor Menschen tatsächlich den Schritt gehen und aus der Kirche austreten setzt ein Prozess ein, der unterschiedlich lang andauert. Die Länge bis zur Realisierung nimmt aber in den letzten Jahren stetig ab. Ursache und Auslöser des Kirchenaustritts überlappen sich zusehends.
Untersucht wurde auch Faktoren, die die Kirchenbindung der Menschen stärken, die so genannten Gratifikationen. Es lohnt sich, auch diese Faktoren anzuschauen. Dazu gehören:
Die gelebte Realität und Wahrnehmung:
Die Institution ist erstarrt, die Kirche in Deutschland ist an einem „toten Punkt“, wie Kardinal Marx unlängst in seinem Rücktrittsangebot den Jesuiten Alfred Delp zitiert.
Es ist so selbstverständlich wie notwendig. Es ist eindeutig: Die Institution muss an die Wurzeln des Übels, an die Abgründe. Aufklärung, mit uneingeschränktem Blick auf die Betroffenen. Und das nicht, um die Institution zu retten und ihr Image zu stärken, sondern um der Menschen willen. Und sie tut sich so schwer damit.
Und in diesem Prozess der lückenlosen Aufklärung gehören auch die Frage nach der Grundlage des Glaubens und seiner Weiterentwicklung, nach förderlichen Strukturen, ebenso wie die ehrliche Wahrnehmung von Sehnsüchten und Zerbrechlichkeiten der Menschen von heute.
Der Jesuit Pilipppe Bacq spricht von einer „Pastoral der Rahmung“, die über einen langen Zeitraum die kirchliche Sozialform in Europa gebildet hat. Es ging um Versorgung und Normierung einerseits und um Kontrolle andererseits. Der Begriff „Rahmung“ steht hier für die versorgende Kirche, die von der Wiege bis zur Barre oder von der Taufe bis zur letzten Ölung für das komplette christliche Leben der Menschen versorgt hat. Das Leben der Menschen war in festgelegten Bahnen vorgezeichnet. Glorifizierende Bilder einer blühenden Kirchenlandschaft, in der Denk- und Glaubensmuster fast osmotisch von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde. An diesem Beispiel lässt sich recht schnell ergründen, weshalb Menschen, die heute aus der Kirche austreten, ihren Schritt teilweise sogar als Befreiung erleben.
Theologen wie Eberhard Schockenhoff u.a. bieten eine veränderte Denkweise an: Statt von einer „Sexualmoral“ zu sprechen, bietet er den Begriff „Sexualethik“ an. Dieser inhaltliche Denkwandel in hier nur einem beispielhaft angeführten Wort trägt zu einer eigenständiger Entscheidungsmöglichkeit des Menschen bei. Und so schlicht dieses Beispiel auch klingt, ist dieser Denkwandel unumgänglich für einen freiheitlich gelebten Glauben. Raus aus einer institutionellen Erstarrung. Raus aus rigiden Vorgaben. Hin zu einer Stärkung des eigenen Gewissens und der Gewissensbildung.
Quellen:
Angaben zur Autorin:
Sabine Gautier hat als Theologin und Pastoralreferentin viele Jahre in der Frauenseelsorge des Bistums Osnabrück gearbeitet. Zuletzt war sie Referentin in der Citypastoral in Bremen und Beauftragte für Rundfunk- und Öffentlichkeitsarbeit. Seit April 2020 ist sie Referentin für den Themenbereich Geschlechter.Beziehung.Familie.Lebenswege des Erzbistums Hamburg.