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Glaube

Zweifler

22. Juni 2020

Der Glaube wird tiefer, wenn Fragen und Zweifel zugelassen werden. Wer die eigenen Zweifel kennt, wächst im Glauben, meint Ralph Frieling und erzählt eine biblische Geschichte neu (Johannes-Evangelium 20, 24-29).

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Symbolbild Lästern
Bild: Imago Images/CHROMORANGE

Thomas ist Mitte 30 und weiß, was er will. Und vor allem, was er nicht will. Eigenbrötler, nennen ihn manche. Weil er sich oft zurückzieht. Er denkt viel nach.

Früher, als Kind, saß er oft bei Opa und Oma und hörte sich Geschichten an. Mit großen Augen. Entdeckte alle Geheimnisse in der Natur, am See und im Wald. Schöne Kindertage waren das.

Irgendwann wurde er kritisch. Wollte alles wissen. Sei nicht immer so ernst, sagte seine Mutter zu ihm. Wieso, sagte Thomas und zuckte mit den Schultern. Einmal hatte ihn sein Lehrer bloßgestellt. Völlig unfair. Da ist er hin und hat in der Schule protestiert. Nutzte natürlich nichts. Aber Thomas schwor sich, in Zukunft nicht so schnell klein bei zu geben.

Vor einigen Jahren starb seine kleine Schwester. Wieso? Er fragte das die Ärzte, die sagten: Ist manchmal so. Er fragte das die Freunde. Die sagten: Wird schon wieder. Er fragte das Gott. Aber eine Antwort hörte er da auch nicht. Wieso konnte ich sie nicht beschützen, fragte er sich selber.

All das hat Thomas vorsichtiger gemacht, ernster, ein bisschen härter, und kritischer. Realistisch eben. Ihm macht keiner etwas vor.

 

Neu anfangen

Einmal kam ein Fremder ins Dorf. Der sah sich um und sah Thomas. Sieht aus wie einer, den ich gut gebrauchen kann, sagte sich der Mann. Den frage ich, ob er mir folgen will.

Thomas dachte sich: mal sehen. Und folgte dem Fremden.

Zwei Jahre ging er mit Jesus und den anderen elf Jüngern. Manchmal runzelte er die Stirn und rollte mit den Augen, etwa als Jesus dem Zöllner sagte, ihm seien seine Gaunereien und korrupten Tricks vergeben, einfach so.

Bei anderen Gelegenheiten musste er unwillkürlich lächeln, zum Beispiel bei der Geschichte mit dem alten, gelehrten Nikodemus. Der wusste doch wirklich alles über die Bibel. Wie der Jesus mal nachts besucht hatte, heimlich, und ihn fragte, ob einer neu anfangen kann. Wie er dann Stunden später in die Morgensonne trat und fort ging, aufrecht und befreit, da hatte er sich für den Alten gefreut. Bei solchen Gelegenheiten bewunderte er Jesus. Ansonsten blieb er aber immer ein bisschen auf Distanz. 

Es nahm  kein gutes Ende. Jesus starb am Kreuz. Wieso? Fragte Thomas. Wieso hat Gott ihn verlassen? 

Dann, zwei Tage später - Thomas war unterwegs und kommt spät abends zu den anderen Freunden zurück, ist große Aufregung: Die Jünger sind alle durcheinander, und reden auf ihn ein: Wir haben den Herrn gesehen. Er ist uns erschienen. Er ist auferstanden.

Thomas schaut um sich, dann nach unten, schüttelt den Kopf. Und hebt die Hände mit gespreizten Fingern zwischen sich und die anderen, wehrt ab, was an Froher Botschaft und Eifer und Erwartung auf ihn einprasselt. Nicht so schnell.

Er hat Jesus sterben sehen. Auferstehen, was soll das? Wunschtraum, Halluzination, denkt er. Und noch viel schlimmer: ein Spiel mit falschen Hoffnungen. Das glaube ich nicht, hat er gesagt. Doch, echt, sagen die anderen, er lebt! Müsste ich erst sehen und selber fassen, sagt Thomas. Die anderen: Aber wenn wir es dir doch sagen!

Thomas ist nicht überzeugt. Hört auf, sagt er. Tot ist tot.

Dann sagt er nichts mehr, die anderen auch nicht. Eine ganze Woche lang gehen die Jünger ein und aus. Und sie gehen sich aus dem Weg. Und sie gehen sich auf die Nerven: Lebt Jesus jetzt oder lebt er nicht?

Nach acht Tagen kommt Jesus wieder zu ihnen. Thomas sieht den Auferstandenen, darf ihn berühren und lässt sich von ihm berühren. Er macht seine eigene große Erfahrung und lernt: Indem ich den Zweifel zulasse und aushalte, kann mein Glaube  anders werden, tiefer und reifer.

Nach Thomas ist übrigens eine der ältesten Kirchen der Welt benannt. In Süd-Indien an der Malabar-Küste leben die Thomas-Christen. Thomas hat sich von den anderen abgesetzt und ist seine eigene Reise angetreten. Quer über den Ozean. Und  er hat in Indien die erste christliche Gemeinde gründet. Noch heute gibt es sie dort, die Thomas-Christen – und ihre Erzählung vom Anfang.

Zu welchen Ufern macht sich der realistische, kritische Thomas von heute auf? Wem begegnet er? Wovon lässt er sich berühren?