Demokratie von Unten
21. September 2017Ein Fußballplatz am Rande der Stadt. Es regnet und der Rasen ist rutschig. Acht Jungs spielen unbeirrt und konzentriert weiter, einige in richtigen Fußballschuhen, andere in Turnschuhen, ein paar barfuß.
Die Pässe zeugen von Mannschaftsgeist. Die Teams werden jede Woche neu zusammengestellt, je nachdem wer kommt. Nach einer Stunde steht es 11 zu 10. Regelmäßig wird "Tor!", "Faul" oder "Ecke" gerufen – auf Deutsch. Denn wenn die Trainingsmannschaft der Flüchtlingsunterkunft in Köln-Rodenkirchen jeden Dienstag zusammenkommt, ist Deutsch die Gemeinschaftssprache.
Möglich macht das Uli Müller, der jeden Dienstag um 15 Uhr die Kinder, die mitmachen möchten, mit auf dem Platz nimmt. Vier bis fünf Stunden wöchentlich engagiert er sich ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit. Warum?
"Im Vordergrund steht für mich die menschliche Geste. Aber auch ein Signal etwas Positives beitragen zu können für die Integration von Menschen, die größtenteils alles verloren haben und hier Schutz finden sollen", sagt er. Er engagiert sich in der lokalen Willkommensinitiative "Wisü", derWillkommensinitiative im Rheinbogen.
Deutschlandweit gibt fast 31 Millionen Menschen, die sich wie Uli Müller ehrenamtlich engagieren. Das ehrenamtliche Engagement ist seit Jahren ungebrochen. Das belegt eine Studie des Bundesfamilienministeriums, die alle fünf Jahre neu erhoben wird. Das freiwillige Engagement sei "eine zentrale Form der sozialen Teilhabe" und "wertvoll für die Demokratie", so das Fazit der aktuellsten Studie.
Politischer Einfluss von Unten
Das Engagement der meisten Deutschen ist lokal und findet vor allem in Vereinen statt. Es reicht von der Elternpflegschaft in der Schule oder im Kindergarten über Kleingarten- oder Sportvereine bis hin zur Umwelt- und Klimabewegung, wobei Sportvereine die meisten Mitglieder in Deutschland haben.
"Wir sind ja in Deutschland föderal und dann in Dachorganisationen organisiert. Jetzt mag vielleicht der lokale Sportverein vor Ort einen begrenzten politischen Einfluss haben, aber der Deutsche Olympische Sportbund ist natürlich schon ganz aktiv und auch politisch sehr kräftig", beschreibt Anette Zimmer, Politik-Professorin an der Uni Münster, den Einfluss, den Vereine und Bürgerinitiativen durch ihre Dachorganisationen haben.
Sie beschäftigt sich seit Jahren nicht nur mit der deutschen, sondern auch mit der internationalen Zivilgesellschaft. In diesem Sommer nahm sie an einem Regionalkongress in der ghanaischen Hauptstadt Accra teil. Das Thema: Die Rolle der afrikanischen Zivilgesellschaft für die demokratische Entwicklung in der Region.
"Der Aufbau von zivilgesellschaftlichen Strukturen gerade in jungen Demokratien in Afrika ist ganz wichtig, weil das ja freiwillige Einrichtungen und Aktivitäten sind, die eben nicht an traditionelle Strukturen wie den Klan oder die Familie gebunden sind", so Zimmer.
Keimzelle der Demokratie
Ob politisch orientiert oder eher nicht: Das zivilgesellschaftliche Engagement findet in der Regel erst einmal lokal statt. Dann können daraus größere Bewegungen und politische Forderungen entstehen, etwa wenn sich mehrere lokale Initiativen in Netzwerken zusammenschließen. Die Zivilgesellschaft entwickelt sich sozusagen als Keimzelle und Basis der Bürgerbeteiligung.
Schließlich sind die meisten Freiwilligen auch Wähler und Bürger, die die Demokratie mit Leben erfüllen und die demokratischen Beschlüsse und Prozesse im Alltag umsetzen.
Die deutsche Partei Bündnis 90/Die Grünen ist als Protestpartei aus der Umweltbewegung entstanden und mittlerweile seit Jahrzehnten im Deutschen Bundestag vertreten. Aktuell stellt sich die AfD („Alternative für Deutschland") als Partei rechtsgerichteter Nationalisten bei der Bundestagswahl auf. Viele ihrer Anhänger sympathisieren mit der Islam- und fremdenfeindlichen Pegida-Bewegung. Auch Proteste aus dem rechten Spektrum sind Teil der Zivilgesellschaft.
Parteien verlieren Mitglieder
Im Gegensatz zur Situation in vielen jüngeren Demokratien, seien die Organisationsstrukturen der Zivilgesellschaft in Deutschland bereits sehr ausgeprägt, meint die Politikwissenschaftlerin. Allerdings, so Anette Zimmer im DW-Gespräch, agiere die Zivilgesellschaft generell nicht direkt politisch: "Nur eine Minderheit der Bevölkerung ist überhaupt politisch aktiv. Die reine politische Aktivität ist in der Summe eigentlich immer nur minimal vorhanden."
Das spüren in Deutschland vor allem die etablierten politischen Parteien und die Gewerkschaften, die seit Jahren schwindende Mitgliederzahlen beklagen. Doch während dort das persönliche Engagement schwindet, wächst seit den 1970'er Jahren das Engagement für themenbezogene Organisationen wie Greenpeace oder Amnesty International. Diese üben wiederum Einfluss auf die Politik aus.
"Die neuen zivilgesellschaftlichen Organisationen haben da ganz neue Formen des Lobbying entwickelt", betont Zimmer. Allerdings, fügt sie hinzu, gibt es in der Politik auch mächtigere Lobbys:
"Dass die Wirtschaft so mächtig ist, ja das stimmt, und dass sie auch übermächtig ist im Vergleich zur Lobbymacht der Zivilgesellschaft, das stimmt auch - insbesondere auf der europäischen Ebene, es trifft aber auch auf Berlin zu. Solche direkten Wege in die Politik hinein hat die Zivilgesellschaft nicht."
Mit "Seifenblasen" gegen Schlagstöcke
Um mächtigen Wirtschaftslobbys etwas entgegenzusetzen greifen manche Akteure der Zivilgesellschaft auch zu umstrittenen Mitteln. "Unsere Aktionen sind nicht immer legal, aber legitim, weil sie eben notwendig sind", betont Janna Aljets vom Aktionsbündnis "Ende Gelände".
Die Aktionsgemeinschaft versammelte sich Ende August in einem großen Braunkohlerevier, um gegen den Braunkohleabbau des Energiekonzerns RWE zu protestieren. Um den Transport der Braunkohle in die RWE-Kraftwerke zu verhindern, versuchten Aktivisten von "Ende Gelände" die Gleise zu blockieren.
"Ganz auf die Gleise haben wir es leider nicht geschafft, wir wurden auf einem Feld kurz vorher eingekesselt von der Polizei", erzählt eine Aktivistin aus Deutschland, die bereits seit Jahren in der Klima- und Umweltbewegung aktiv ist. Die 25-Jährige möchte anonym bleiben.
"Erst einmal wirkt es natürlich bedrohlich, wenn man selber sozusagen bewaffnet mit Seifenblasen dann Polizisten in voller Montur, mit Schlagstöcken, Helmen und Schutzkleidung gegenüber steht", beschreibt sie die Situation im Polizeikessel.
Gewaltfrei Gesetze brechen
Die Aktionen des zivilen Ungehorsams von "Ende Gelände" sind zwar nicht legal, doch immer gewaltfrei angelegt. "Ruhig und besonnen" seien die Schlüsselwörter auch in der Vorbereitung, so Janna Aljets. "Es braucht zivilen Ungehorsam, es braucht solche Blockaden von zerstörerischer Naturausbeutung und diese können funktionieren, ohne dass es hier zu gewalttätigen Ausschreitungen kommt", ist Aljets überzeugt.
Die Aktivisten haben sich längst international vernetzt. "Wir sind als Klimabewegung zusammengewachsen. Wir haben Aktivist/innen aus den Niederlanden, Belgien, Dänemark, Schweden, aus Tschechien, Spanien, Italien, Österreich dabei gehabt. Es waren sicherlich mehrere Hundert - gezählt haben wir sie natürlich nicht." Beim diesjährigen UN Klimagipfel in Bonn (6.-17. November) werden einige dabei sein und mit Aktionen auf sich aufmerksam machen.
Digitale Demokratie
Mit einer besseren Vernetzung könnten auch die politischen Parteien der anhaltenden Politikverdrossenheit entgegenwirken, meint Rouven Brües, Geschäftsführer der Initiative Liquid Democracy: "Gerade in Zeiten der fallenden Mitgliederzahlen ist es, meiner Ansicht nach, sehr wichtig, nicht nur die Meinung der eigenen Parteimitglieder zu erfragen sondern auch die Partei zu öffnen und die Diskussion in der Öffentlichkeit mit aufzugreifen. Und da eignen sich vor allem digitale Softwarelösungen sehr gut, um auch die Öffentlichkeit mit einzubeziehen."
Der Verein Liquid Democracy hat sich der Verbesserung der demokratischen Prozesse mit Hilfe geeigneter Software verschrieben. "Besser, das heißt für uns vor allem: partizipativer, transparenter und gleichberechtigter", ist auf der Homepage zu lesen. Der Verein hat zum Beispiel über die Software Adhocracy eine Bürgerplattform für die Stadt Berlin entwickelt, "mein.berlin.de". Es gehe dabei nicht um digitale Volksentscheide.
"Wir haben oft das Gefühl, dass die Abstimmung an sich als Maß der Teilhabe oder Partizipation gesehen wird. Aus unserer Sicht ist es allerdings die Vorbereitung einer Entscheidung, die viel wichtiger sein kann. Zum Beispiel möchten wir digitale Möglichkeiten schaffen, damit Bürgerinnen auch mitbestimmen, über welche Themen überhaupt diskutiert und entschieden werden soll", sagt Rouven Brües im DW-Gespräch.
Die etablierten Parteien scheinen das Tool noch nicht für sich entdeckt zu haben. Social Media Plattformen wie Facebook und Twitter werden zwar von den Parteien genutzt, doch das Gefühl einer echten Beteiligung an der Politik vermitteln sie eher nicht - im Gegensatz zu zivilgesellschaftlichen Initiativen, bei denen jeder freiwillig mitmachen und erst einmal auf lokaler Ebene etwas bewegen kann. So wie Uli Müller, der in Köln-Rodenkirchen Flüchtlingskindern das Fußballspielen ermöglicht und ihnen damit hilft, in Deutschland Fuß zu fassen.