1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Zehnjähriger Kampf

9. August 2011

Nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 schworen die USA den Westen auf den "Krieg gegen den Terror" ein. Darüber gerieten die eigentlichen Probleme des Nahen und Mittleren Ostens lange Zeit aus dem Blickfeld.

https://p.dw.com/p/11a4S
Porträts von Michael Chandler und Guido Steinberg

Als George W. Bush neun Tage nach den Anschlägen des 11. Septembers den "Krieg gegen den Terror" erklärte, versuchte er auch, Antworten auf die Fragen zu geben, die damals nicht nur die US-Amerikaner bewegten: "Die Amerikaner fragen sich, warum hassen sie uns? Sie hassen das, was wir haben: eine demokratisch gewählte Regierung. Sie hassen unsere Freiheit: unsere Religionsfreiheit, unsere Redefreiheit, unsere Freiheit zu wählen, uns zu versammeln und einander zu widersprechen."

Westliche Werte im Fadenkreuz der Al Kaida - diesen globalen Aspekt der Strategie der Terroristen haben die Berater der Bush-Administration überbewertet. Das meint jedenfalls Guido Steinberg, Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). "Die Botschaft des Anschlags war: Zieht euch aus Saudi-Arabien, aus Ägypten und aus den anderen arabischen Ländern zurück. Wenn das nicht passiert, dann werden wir solche Anschläge auf Amerikaner weltweit verüben, aber auch in eurem Land."

Die Strategie der Al Kaida

Steinberg erläutert, dass Al Kaida Mitte der 1990er-Jahre ihre Strategie änderte. Bis zu diesem Zeitpunkt bekämpfte die Terror-Organisation die autoritär geführten und von den USA unterstützten Regime der Region vor Ort. Dann aber entschloss sich Al Kaida, nicht mehr die Regime als solche, sondern den von den Dschihadisten so genannten "fernen Feind" zu bekämpfen. Über den Umweg der USA sollten die autoritären Staaten der Region destabilisiert werden. Dazu bedurfte es einer Ausweitung der Terrorstrategie auf das amerikanische Festland.

Guido Steinberg Experte Stiftung Wissenschaft und Politik (Foto: DW/Birgit Görtz)
Nah- und Mittelost-Experte Guido SteinbergBild: DW

Eigentlich hätten die Berater der Bush-Regierung diese Strategie richtig erkannt und gewusst, dass es im Kern um die Probleme im Nahen und Mittleren Osten ging, sagt Steinberg. Doch unter dem Schock des 11. Septembers stehend habe man das Phänomen der Al Kaida verzerrt wahrgenommen. Sie sei nie mehr gewesen als eine Terrororganisation mit einigen tausend Mitgliedern, erläutert der Experte. Dass es der Al Kaida gelang, das Wirtschafts- und Finanzzentrum der Welt ins Mark zu treffen, habe vor allem an der Schwäche ihres Gegners gelegen.

Auf den Wandel, den die Organisation Osama bin Ladens seit 2001 durchlaufen hat, weist der britische Terrorismus-Experte Michael Chandler hin: "Zum Zeitpunkt des 11. Septembers deutete alles darauf hin, dass Al Kaida gut strukturiert war. Bin Laden und sein engster Zirkel hatten einen Shura-Rat, fast wie eine Art Regierung. Seit der US-geführten Intervention in Afghanistan, als man versucht hat, Bin Laden und die Taliban zu fassen, sehen wir einen Wandel in der Organisationsstruktur der Terroristen." Die Al Kaida mit ihren Verbündeten und Netzwerken sei zu einer Art Ideologie-Export geworden. Dabei hätten sich an unterschiedlichen Orten unabhängig voneinander operierende Ableger der Terrororganisation gebildet. Manche Experten sprechen sogar von einem "Franchising", so Chandler.

Von der regionalen Organisation zum weltweiten Netzwerk

Die Franchise-Gruppen, also die weltweiten Ableger der Al Kaida, verübten weitere Anschläge: in Madrid, Djerba, London, Bali und andernorts. Doch statt sich auf die regionalen Ursachen des Dschihadismus zu konzentrieren und den Kampf gegen Al Kaida und Taliban auf afghanischem und pakistanischem Boden zu forcieren, wandte sich die US-Administration dem Irak zu, der bis dahin nicht als Brutstätte des Terrors aufgefallen war.

In den Augen von Guido Steinberg lag darin eine strategische Fehlentscheidung der Bush-Regierung. Sie habe sich faktisch aus Afghanistan und Pakistan verabschiedet, weil sie alle Ressourcen für den Krieg im Irak benötigte. "Dieser Krieg im Irak hatte überhaupt nichts mit der Terrorismusbekämpfung zu tun, auch wenn die Bush-Administration das immer wieder behauptet hat. Vielmehr war dieser Krieg eine der ganz großen Katastrophen in den zehn Jahren Terrorismusbekämpfung, weil er dazu führte, dass ganz viele junge Männer aus der arabischen Welt nun zum Kampf in den Irak gingen." Dabei habe es sich um Menschen gehandelt, die vorher nicht zur Al Kaida oder zu militanten Gruppen gehört hätten, sagt der Nah- und Mittelostexperte der SWP. Er ist überzeugt, dass es sinnvoller gewesen wäre, sich auf Afghanistan zu konzentrieren, auf den Irak-Krieg zu verzichten und von den Regimen in der Region Reformen einzufordern. Im Endeffekt seien die vergangenen zehn Jahre verlorene Zeit für die politische Entwicklung der Region des Mittleren und Nahen Ostens gewesen.

Die Rolle der Al Kaida heute

Auch zehn Jahre nach den Anschlägen vom 11. September ist der islamistische Terror nach Ansicht der meisten Experten noch längst nicht besiegt. Gruppierungen mit regionalem Fokus operieren weitgehend unabhängig voneinander. So genannte "home grown terrorists" suchen sich Ziele in den westlichen Staaten, in denen sie aufgewachsen sind. Die ursprüngliche Al Kaida sei allerdings durch zwei Entwicklungen marginalisiert worden, sagt Guido Steinberg. Zum einen durch Bin Ladens Tod. Zum anderen durch die Revolutionen im arabischen Raum. Die Entwicklung in Ländern wie beispielsweise Ägypten oder Algerien hätte gezeigt, dass der politische Einfluss der Al Kaida in der Region zurückgegangen sei. De facto habe sie bei den bisherigen Umwälzungen keine Rolle mehr gespielt, meint Steinberg. "Das zeigt, wie weit sich diese Organisation mit ihrer Ideologie von der Lebenswirklichkeit der Menschen entfernt hat." Deswegen seien die revolutionären Bewegungen im arabischen Raum auch höher zu bewertenj als der Tod Bin Ladens. "Das ist in der Tat auch der wichtigere Einschnitt des Jahres 2011."

In einem aber sind sich die Terrorismusexperten einig: Anschläge lassen sich auch heute nicht zu 100 Prozent ausschließen. Hingegen sei es möglich und nötig, durch eine gezielte Terrorbekämpfung ihre Ausmaße zu reduzieren - damit sich der 11. September nie wiederholt.

Autorin: Birgit Görtz
Redaktion: Daniel Scheschkewitz

Ein zerstörter Bus in London (Foto: Peter Macdiarmid/PA Wire)
London 2005: Die Attentäter waren "home grown terrorists"Bild: picture alliance / empics
Porträt von Michael Chandler (Foto: Matthias von Hein)
Terrorismusexperte Michael ChandlerBild: DW