1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Wolodymyr Selenskyj: Der Präsident, den Putin unterschätzte

Roman Goncharenko
24. Februar 2023

Ein Jahr nach dem russischen Überfall leistet die Ukraine noch immer erbitterten Widerstand. Das liegt auch an ihrem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der alle überraschte - vor allem den Aggressor.

https://p.dw.com/p/4NFGf
Selenkyj bei einer Videoansprache, Januar 2023
Selenkyjs Videoansprachen dienen als Motivation für die UkrainerBild: Presidential Office of Ukraine | CC BY-NC-ND 4.0

Es ist ein Weltrekord. Kein Staatschef hat über einen vergleichbaren Zeitraum jeden Tag eine Ansprache gehalten. Wolodymyr Selenskyj hält sie inzwischen seit gut einem Jahr. Täglich. Videobotschaften des ukrainischen Präsidenten, aufgenommen mal in seinem Büro, mal in einem Schutzbunker, sind seine Kriegschronik. Sie dokumentieren, wie sich das Land und er selbst seit dem russischen Überfall verändert haben.

Rückblick: Am 23. Februar 2022, wenige Stunden vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, nimmt Selenskyj eine besondere Ansprache auf. Er wendet sich an seine Landsleute, vor allem an die Bürger Russlands, und versucht, den drohenden Krieg abzuwenden. Er ruft zu Protesten in Russland auf - und er warnt. "Wenn wir angegriffen werden, wenn man unser Land, unsere Freiheit, unser Leben und das Leben unserer Kinder zu nehmen versucht, werden wir uns verteidigen", sagt Selenskyj auf Russisch. Es ist das letzte Mal, dass man den damals 44-Jährigen glatt rasiert und mit Anzug und Krawatte sieht. "Bei einem Angriff werdet ihr unsere Gesichter sehen, nicht unsere Rücken!" Er hält Wort.

Letzte Ansprache vor dem Überfall, 23. Februar 2022
Die letzte Ansprache vor dem Überfall, 23. Februar 2022Bild: Ukrainian Presidential Press Service/REUTERS

"Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit"

Nach dem Angriff bleiben Selenskyj und seine Regierung in der Hauptstadt Kiew, auch als russische Truppen bis in die Vororte vorrücken. Das überrascht. Vor allem Russlands Präsident Wladimir Putin setzt offenbar darauf, dass Selenskyj in die Westukraine oder ins Ausland flüchtet. Solche Angebote soll es gegeben haben. Selenskyjs Antwort darauf, verbreitet von der Nachrichtenagentur AP, ist heute legendär: "Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit." Ob er das genau so formuliert hat, ist nicht belegt. Aber es ist die Botschaft, die ankommt: Sie bringt Selenskyj viele Sympathien im Ausland und stärkt den Kampfgeist seiner Landsleute.

Denn er symbolisiert auch eine 180-Grad-Wende. In den Wochen zuvor rätseln viele über Selenskyjs Verhalten. Als westliche Geheimdienste und Staatschefs vor einem bevorstehenden russischen Einmarsch warnen und Botschaftspersonal aus Kiew abziehen, reagiert Selenskyj dünnhäutig, mit Misstrauen und Kritik. Später erklärt er das mit dem Wunsch, er habe Panik vermeiden wollen. Der russische Angriff aber ändert alles.

Die Kamera: Selenskyjs stärkste Waffe

In seiner Ansprache am 24. Februar 2022, dem ersten Kriegstag, trägt der Präsident ein olivgrünes Shirt. Der militärische Dresscode bleibt bis heute sein Markenzeichen, ebenso wie der Dreitagebart. So kennt ihn die Welt, so erscheint er in unzähligen Interviews und auf Titelseiten. Am zweiten Kriegstag dreht er eines seiner wichtigsten und bekanntesten Videos. Die rund halbminütige Aufnahme zeigt Selenskyj und die Staatsführung abends vor dem Präsidentenamt in Kiew. Die Kernbotschaft: "Wir sind alle da, wir bleiben und wir kämpfen." Am Anfang ist er Moskau gegenüber noch zu Zugeständnissen bereit, etwa beim von der Ukraine gewünschten NATO-Beitritt. Doch nach Bekanntwerden der ersten Gräueltaten durch die russische Armee und der Annexion weiterer Gebiete lehnt er jegliche Kompromisse ab. Und er weiß die Mehrheit des Volkes auf seiner Seite.  

Als Kriegspräsident setzt Selenskyj auf das, was er am besten kann: Kommunikation. Die Kamera wird zu seiner stärksten Waffe. Selenskyj dreht Videos in der Stadt, verbreitet Zuversicht, wirkt dabei menschlich nah und findet die richtigen Worte. Außerdem reist er immer wieder an die Front, trifft sich mit Soldaten, ob im befreiten Isjum oder im belagerten Bachmut. In manche Ansprachen lässt Selenskyj Videos aus den von der russischen Armee zerstörten ukrainischen Städten einbauen. Seine Beliebtheitswerte, die vor dem russischen Einmarsch dramatisch eingebrochen waren, haben sich seit Kriegsbeginn verdreifacht; sie liegen aktuell bei 80 bis 90 Prozent. Wie konnte er von Wladimir Putin derart unterschätzt werden?

Putin nahm Selenskyj nicht ernst

Selenskyjs Heimatstadt Krywyj Rih, Archiv
Selenskyjs Heimatstadt Krywyj RihBild: Konstantin Sazonchik/itar-Tass/picture alliance

Antworten findet man in seiner Vergangenheit. Selenskyj ist ein Quereinsteiger, der 2019 unerwartet Präsident wurde. Vor seiner Kandidatur war Selenskyj ein erfolgreicher Komiker, Schauspieler und Produzent. Es gab Zeiten, da unterhielt er auf der Bühne den damaligen russischen Präsidenten Dmitrij Medwedew bei einem Ukraine-Besuch. Es war fast wie in jener beliebten Satire-Serie "Diener des Volkes", in der Selenskyj selbst einen Schullehrer spielt, der später bis zum Staatschef aufsteigt. Auch deshalb nahm Russlands Führung Selenskyj offenbar nicht ernst und wirkte zunehmend irritiert, weil er als Präsident keine großen Zugeständnisse machen wollte. 

Als russischsprachiger Comedian machte sich Selenskyj jahrelang über das Ukrainertum und prowestliche Politiker lustig. Den prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch fasste er dagegen in seinen Witzen mit Samthandschuhen an. Er hatte exzellente Kontakte nach Russland und verdiente dort auch nach der Krim-Annexion Geld. Manche in der Ukraine haben ihm das alles übel genommen.

Der russische Überfall war eine Zäsur. Die Kritik an Selenskyj verstummte, er konnte viele Skeptiker überzeugen, vor allem weil er standhaft blieb und nicht floh. Das könnte auch an seiner Sozialisation liegen.

Selenskyj wuchs in Krywyj Rih auf, einer industriellen Arbeiterstadt in der Südostukraine. Zwar war er als Sohn eines Hochschuldozenten privilegiert, doch seine Generation erlebte noch die letzten harten Jahre der Sowjetunion, die von halbkriminellen Verhaltensregeln geprägt waren. Eine Lektion lautete: Man weicht einem Kampf nicht aus. Als Putin die Ukraine angegriffen hatte, konnte Selenskyj auch auf diese Erfahrung zurückgreifen. Der Kremlchef hat das unterschätzt. Putin behandelte den ukrainischen Präsidenten wie einen unerfahrenen Schwächling, von dem er glaubte, dass er ihn schnell besiegen könne.

Raketenstreit mit Washington bleibt eine Ausnahme

Nicht alles läuft glatt für Selenskyj, seine Regierung agiert nicht ohne Fehler. Einige Spitzenpolitiker mussten gehen, auch enge Freunde des Präsidenten verloren ihre Posten. Der Präsident selbst sorgte international für Irritationen, als er im November sagte, eine russische Rakete sei auf polnisches Gebiet gefallen und habe zwei Menschen getötet. Nach US-Angaben war es eine ukrainische Abwehrrakete.     

Doch dieser Vorfall ist eine Ausnahme. Selenskyj sieht seine primäre Aufgabe darin, durch mediale Präsenz mehr Hilfe für sein Land zu holen. Immer wieder redet er westlichen Politikern ins Gewissen und bittet - manche sagen: bettelt - um Waffen. Mit Erfolg, denn es wird immer mehr geliefert. Kein Präsident hielt so viele Videoansprachen vor den Parlamenten oder Konferenzen dieser Welt wie Wolodymyr Selenskyj. Auch das ist ein Weltrekord.

Ein Jahr nach Putins Überfall auf die Ukraine