Wolffsohn: "Migration ist ein Geschenk des Himmels"
19. September 2015DW: Herr Wolffsohn, Sie haben in einem Ihrer Artikel die Neuankömmlinge als "Geschenk des Himmels" bezeichnet. Sie haben offenbar eine recht optimistische Sicht auf die Zuwanderung.
Michael Wolffsohn: Ich habe das quantitativ gemeint, nicht qualitativ und vor allem nicht bewertend. Und auch nicht negativ oder positiv, sondern beschreibend. Die Antwort ist einfach: Es kommen in Deutschland und Westeuropa weder genügend Kinder zur Welt, noch kommen genügend Einwanderer. Wir haben also ein demographisches Defizit. Darum werden wir unseren Lebensstandard auf Dauer nicht halten können. Jetzt kommen diese viele Menschen. Das mag manchen gefallen und manchen nicht. Aber sie lösen das schwerwiegende demographische Problem der Bundesrepublik. Zumindest mildern sie es.
Andere Staaten versuchen dieses Problem durch eine aktive Zuwanderungspolitik zu lösen.
Langfristig haben Sie natürlich Recht, das Problem hätte man schon längst angehen müssen. Aber bis zum Jahr 2004 wurde das Thema "Demographie" weder in der Politik noch in den Medien oder der breiten Öffentlichkeit ernsthaft diskutiert.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte vor kurzem erklärt, das Grundrecht auf Asyl kenne keine Obergrenze. Daraufhin warf man ihr vor, die Fluchtbewegung zusätzlich angeheizt zu haben. Sehen Sie da auch einen Zusammenhang?
Ich bewerte den Satz der Bundeskanzlerin als ebenso positive politische Geste wie den Kniefall von Willy Brandt am Mahnmal des Warschauer Ghettos im Dezember 1970. Angela Merkel hat das menschlich eigentlich Selbstverständliche formuliert, das, was ein zivilisiertes Gemeinwesen überhaupt erst menschlich macht. Natürlich kann man im Hinblick auf Umsetzung und Tempo der Aufnahme das Eine oder Andere bemängeln. Aber bitte vergessen wir nicht die Proportionen. Hier hat Angela Merkel, also die wichtigste Repräsentantin der Bundesrepublik Deutschland, das normative Maß für die Bundesrepublik Deutschland gesetzt. Ich bin stolz auf eine Regierungschefin, die ein solches Maß gesetzt hat.
Sie wiesen an anderer Stelle darauf hin, dass die nun nach Deutschland kommenden Menschen größtenteils Zahl Muslime sind. Sie rechnen darum mit einer gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Revolution. Bereitet Ihnen das Sorge?
Natürlich bereitet das Sorgen. Wir bekommen nichts à la carte. Alles hat seine zwei Seiten. Über die positiven Seiten, die Lösung oder zumindest Milderung des demographischen Problems, haben wir bereits gesprochen. Wir haben zugleich aber enorme gesellschaftliche Spannungen zu erwarten – das Eintreffen von Neuankömmlingen ist eben nie unproblematisch. Denken Sie an die Wanderbewegungen 1945 aus Osteuropa oder sogar an die Wanderungsbewegungen nach 1989 aus der DDR. Auch das war nicht immer leicht. Otto Schily hatte 1989 die Banane gezeigt. Aber das ist überall so: Neuankömmlinge werden von den Alteingesessenen nicht willkommen geheißen.
Um noch einmal den religiösen Faktor anzusprechen: Wie bewerten Sie denn den Umstand, dass nun überwiegend Muslime nach Deutschland kommen?
Zum Einen wird sich innerhalb der muslimischen Gemeinschaft eine Entwicklung hin zu einem Reformislam anbahnen. Denn diese Menschen entfliehen ja dem real existierenden, sprich: massenmordenden Islam. Sie sind nicht nach Europa gekommen, um hier einen islamischen Fundamentalismus zu etablieren.
Zugleich fliehen die Menschen aber auch vor dem Regime Bashar al-Assads. In anderen Worten: Sie fliehen vor einem diktatorischen säkularen Regime.
Die Menschen fliehen vor beiden. Sie fliehen vor der tödlichen Gefahr Bashar al-Assads, der ein säkularer Mörder ist. Und zugleich entfliehen sie den religiös-fundamentalistisch-islamistischen Mördern. Beide sind kaum voneinander zu unterscheiden. Darum wird es innerhalb der muslimischen Gemeinde Spannungen geben: Die einen werden den Islam reformieren wollen. Die anderen werden sich für eine säkulare Demokratie aussprechen. Aber auch das würde die islamischen Reformkräfte in Europa stärken.
Auf der anderen Seite wird es auch zu Enttäuschung und Frustrationen kommen. Dadurch wird es einen noch stärker ausgeprägten fundamentalistischen Teil der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland und Westeuropa geben. Das wird sich nicht im Nahen Osten, sondern bei uns abspielen. Aber insgesamt ist es für die Muslime einen Chance, in Europa einen Reformislam zu entwickeln. Und das ist auch für Nicht-Muslime eine segensreiche Entwicklung.
Was ist denn kurzfristig eine kluge Politik zur Integration der Zuwanderer?
Einerseits die langfristige Vision zu erkennen und die traditionell einheimische Bevölkerung darauf vorzubereiten, dass die Überlieferungsgemeinschaft, die Kommunikationsgemeinsamkeit sich in Deutschland verändern werden – doch nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten Welt, und darum auch in Westeuropa. Einige Länder stemmen sich dagegen – so etwa Ungarn und andere ost- und südosteuropäische Staaten. Darauf muss man die einheimische Bevölkerung vorbereiten. Dabei darf man nichts verniedlichen.
Auf der anderen Seite kommt es darauf an, die großen Möglichkeiten darzustellen. Es gibt nichts umsonst, und nichts ist ausschließlich negativ oder positiv. Kurzfristig wird es wichtig sein, die organisatorischen Maßnahmen zu verbessern. In dieser Hinsicht bin ich sehr optimistisch.
Prof. Michael Wolffsohn lehrte Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Zuletzt erschien von ihm "Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf".