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"Wir hörten Gewehrsalven und Detonationen"

Kersten Knipp16. Juli 2016

Der ARD-Journalist Reinhard Baumgarten hat die Nacht des Putschversuchs in Istanbul miterlebt. Im DW-Interview schildert er seine Eindrücke. Für die nahe Zukunft erwartet er einen harten Kurs des türkischen Präsidenten.

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Ein Polizisat hält in Istanbul ein Maschinengewehr in die Luft (Foto: YASIN AKGUL/AFP)
Bild: Getty Images/Y.Akgul

DW: Herr Baumgarten, wie haben Sie die letzten Stunden in Istanbul erlebt?

Reinhard Baumgarten: Wir haben die ganze Nacht mitbekommen, wie hier geschossen wurde, denn wir sind ziemlich nah an der ersten Bosporus-Brücke. Diese Brücke ist ja gestern Abend bereits gesperrt worden, da standen zwei schwere Panzer drauf. Auf der asiatischen Seite war diese Stelle bis heute morgen heftig umkämpft. Wir hörten Gewehrsalven und Detonationen, das ließ auf erhebliche Kämpfe schließen. Außerdem flogen die gesamte Nacht Tiefflieger und Hubschrauber über die Stadt; manchmal gingen die Tiefflieger sogar in Überschallgeschwindigkeit. Momentan läuft der Verkehr über die Brücken wieder, die Lage scheint sich auf den ersten Blick beruhigt zu haben – wenngleich Erdogan seine Anhänger aufgefordert hat, auf den Straßen zu bleiben und weiterhin die Plätze zu beleben, da die Gefahr noch nicht endgültig gebannt sei.

Wer stand sich in der Nacht denn gegenüber? Die rivalisierenden Teile des Militärs?

Zunächst einmal die kleineren Teile des Militärs, die versucht haben, diesen Putsch ins Werk zu setzen. Denen standen zunächst Polizisten gegenüber und dann auch Militärangehörige.

Wie schätzen Sie die Vorbereitung des Putsches ein? Er ist ja schnell wieder niedergeschlagen worden.

Auf den ersten Blick macht das Ganze nicht den Eindruck, als sei es gut vorbereitet worden. Es wirkte eher stümperhaft. Es wurden ganz wichtige Dinge außer Acht gelassen. So hat man z. B. versäumt, sich Kontrolle über die Medien zu verschaffen. Ebenso wusste man offenbar nicht genau, wo sich die führenden Köpfe des Landes befinden, um ihrer womöglich Herr zu werden. Es war ein schnelles, aber insgesamt offenbar nicht sehr gut koordiniertes Vorgehen. Während der Nacht schien die Lage für ein, zwei Stunden unentschieden, so dass wir nicht wussten, wer nun die Oberhand hat oder gewinnt. Aber offenbar war die Unterstützung aus dem Militär doch viel zu dünn, um die Ankündigung, das Land unter Kontrolle zu bringen, wirklich umsetzen zu können.

Wie hat sich denn die Zivilbevölkerung verhalten?

Es gab ja den Aufruf von Präsident Erdogan, sie sollten massenhaft auf die Straßen und Plätze gehen und sich vor allem zum Flughafen in Istanbul begeben. Das haben sehr viele auch getan. Als die Putschisten sich zurückzogen, landete auch schon die Maschine von Präsident Erdogan. Er konnte dann umgehend seine Ansprachen und Reden halten. Bis jetzt waren viele Menschen auf den Plätzen und an strategisch wichtigen Straßenverbindungen unterwegs, um sich den Putschisten in den Weg zu stellen.

Reinhard Baumgarten (Foto: "Bild: SWR/Kluge" (S1). SWR-Pressestelle/Fotoredaktion, Baden-Baden)
ARD-Türkei-Korrespondent Reinhard BaumgartenBild: SWR/Kluge

Haben sich auch Sympathisanten des Putsches artikuliert oder gezeigt?

So wird es zumindest in den Medien berichtet. Das wird aber nicht allzu breit getreten. Aber es ist auch in den sozialen Medien davon die Rede, dass es durchaus Leute gab, die den Putsch begrüßt haben sollen. Es ist aber nicht zu nennenswerten Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern des Putsches gekommen.

Was sind denn Ihrer Einschätzung nach die Ursachen dieses Putschversuchs?

Die Putschisten haben heute Nacht eine Erklärung im staatlichen Fernsehen verlesen. Sie bezeichneten sich selbst als "Friedensrat" und erklärten, Demokratie, Freiheit und Säkularismus wieder herstellen zu wollen. Das sind wohlfeile Worte. Ähnliches äußern alle Putschisten. Aber ich denke, dass es in der Armee – das haben wir als Gerücht in den vergangenen Wochen auch immer wieder gehört – gärte, was den Kurs von Präsident Erdogan angeht. Das bezog sich zum einen auf Syrien, zum Anderen auf die PKK. Zudem gab es Unzufriedenheit, dass die Lage in der Türkei durch die Terroranschläge sehr instabil geworden ist.

Die Armee galt ja lange Zeit auch als Hüterin eines säkularen Staates. Hat auch dieses Motiv eine Rolle gespielt?

So wird es jedenfalls berichtet. Allerdings darf man nicht vergessen, dass viele Angehörige des Militärs, der Polizei und der Justiz der Fetullah-Gülen-Bewegung nahestanden. Diesen Vorwurf hat ja auch Erdogan erhoben. Er hat erklärt, dieser Putsch gehe auf den so genannten Parallel-Staat zurück, womit er in erster Linie die Gülen-Bewegung meint. Diese Leute haben sich nicht unbedingt dem Säkularismus verschrieben, das ist eine sehr stark konservative Strömung. Aber es gibt in der Armee eben auch eine starke kemalistische Strömung, die den Säkularismus pflegt und darauf achtet, dass das Staatsprinzip des Laizismus eingehalten wird.

Wie bewerten Sie den Vorwurf der Regierung, die Gülen-Bewegung stehe hinter dem Putschversuch?

Es ist durchaus möglich, dass an dem Putschversuch auch Personen teilnahmen, die dieser Bewegung nahestehen. Aber dass diese Organisation den gesamten Putsch orchestriert haben soll, halte ich doch für relativ unwahrscheinlich. Ich glaube nicht, dass diese Bewegung noch so viel Einfluss hat. Dass aber einzelne Putschisten von der Ideologie der Bewegung beeinflusst sind, halte ich durchaus für möglich.

Wie könnte es Ihrer Einschätzung nach in den kommenden Tagen und Wochen in der Türkei weitergehen?

Präsident Erdogan hat diesen Putsch ja als "Geschenk Gottes" bezeichnet. Denn das eröffne ihm die Möglichkeit, das Militär - ich zitiere - zu "säubern". Es sind bereits über 1500 Soldaten, Offizieren und Obristen festgenommen worden. Ich rechne damit, dass das in den nächsten Tagen so weitergeht und nicht nur die Armee betreffen wird. Was wir in der vergangenen Nacht erlebt haben, ist eine ganz klare Bedrohungslage, gegen die Erdogan vorgehen muss. Und das wird er in den nächsten Tagen und Wochen auch tun.

Das Interview führte Kersten Knipp.

Reinhard Baumgarten ist ARD-Korrespondent mit Sitz in Istanbul.