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Politik

Berliner Gay-Aktivisten zu Besuch in der UdSSR

Dmitry Vachedin mo
15. Dezember 2018

Auf Homosexualität stand in der UdSSR Gefängnis. Allein 1978 wurden 1300 Männer verurteilt. In dem Jahr empfing das ZK eine Gruppe schwuler Aktivisten aus West-Berlin. Was dann geschah, schildert deren Dolmetscherin.

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Homosexuelle Aktion Westberlin
Bild: Rüdiger Trautsch

Deutsche Welle: Frau Beltser-Lisyutkina, sexuelle Handlungen zwischen Männern wurden in der Sowjetunion mit bis zu fünf Jahren Gefängnis oder Zwangsarbeit bestraft. Aber 1978 haben Sie eine deutsche Gruppe Homosexueller bei ihrem Besuch in Moskau begleitet. Wie kam es dazu?

Larisa Beltser-Lisyutkina: Damals arbeitete ich am Institut der Internationalen Arbeiterbewegung in Moskau. Da wir, die Mitarbeiter, viele Fremdsprachen gut beherrschten, beauftragte uns das Zentralkomitee der KPdSU von Zeit zu Zeit, ausländische Gäste zu betreuen. Eines Tages dann wurde auch ich ins ZK gerufen. Der Kurator sagte mir dann, dass ein paar junge Kommunisten einer Organisation namens HAW zu Besuch kommen würden, um Kontakte zur sowjetischen Jugend zu knüpfen. Der ZK-Sekretär Iwan Kapitonow habe sie in West-Berlin kennengelernt und nach Moskau eingeladen.

Was mich wunderte war, dass ich in keinem Verzeichnis den Namen der Organisation finden konnte. Erst Bekannte aus Westdeutschland klärten mich auf und sagten, HAW bedeute "Homosexuelle Aktion Westberlin". Aber zu dem Zeitpunkt hatte ich schon Gutscheine bekommen, mit denen ich in jedem Restaurant, Hotel oder Kino jeden Betrag bezahlen konnte.

Am Flughafen sah ich dann eine seltsame Gruppe ankommen: zwei junge, schlanke, hippiemäßige Männer, eine Frau, die sich als Engländerin entpuppte und eine Bulldogge. Wir fuhren mit einer Limousine zum Hotel "Metropol". Und die Jungs fragten sofort: "Wo gibt es hier Jugendclubs?" Ich sagte: "Jugendclubs haben wir bei der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol und an den Universitäten." "Nein, solche Clubs, in denen sich junge Leute von sich aus treffen. Discos zum Beispiel", sagten sie, und ich antwortete: "Natürlich gibt es beim Komsomol auch Diskotheken."

Gleich am nächsten Tag fragten sie weiter: "Wo sind hier Schwulenclubs?" Ich sagte: "Es gibt keine speziellen Schwulenclubs. Homosexuelle mischen sich gleichmäßig unter junge Leute." Nachdem ich ihnen drei Tage lang Moskau, die Oper und Restaurants gezeigt hatte, setzten sie mir so zusagen die Pistole auf die Brust, und da führte ich sie in ein ruhiges Café und erklärte ihnen, dass es keine Gay-Clubs gab und warum: "Niemand kann sich offen als schwul outen, ohne bestraft zu werden. Ich kenne Leute, die deswegen im Gefängnis sitzen." Darauf sagten sie: "Wir müssen Leute aus der Gay-Community finden und fragen, was los ist."

Hatten Sie wirklich schwule Freunde?

Ja, aber niemand hätte den Kontakt gewagt. Das war sehr gefährlich. Ich erklärte ihnen das, aber sie ließen nicht locker: "Wo lernen sich Schwule kennen?" "Sie treffen sich in öffentlichen Toiletten. Manchmal sind an den Wänden Notizen mit Telefonnummern", sagte ich ihnen und sie wollten, dass ich sie zur nächsten öffentlichen Toilette führte. Moskaus öffentliche Toiletten waren in einem nahezu lebensgefährlichen Zustand. Aber ich erinnerte mich an eine, die mehr oder weniger sauber war. Ich versprach ihnen, sie hinzuführen und dass mein Mann sie begleiten würde.

Sowjetunion Moskau Arbat Restaurant
Ein Moskauer Restaurant Ende der 1960er JahreBild: picture-alliance/Sputnik/В. Сапожников

Am nächsten Tag gingen wir hin. Die Engländerin wartete mit der Bulldogge auf einer Bank, denn ich hatte sie gewarnt: "Nimm den Hund nicht mit, Du wirst ihn später nicht mehr sauber kriegen." Ich ging auf die Damentoilette. Ich fotografierte erotische Graffiti und notierte, was dort stand. Von nebenan hörte ich Gelächter. Meine schwulen Gäste waren wirklich charmant.

War es dem Kurator des ZK nicht unangenehm, dass Sie Homosexuelle begleiteten?

Als ich ihm erklärte, was wir für Gäste hatten, packte er sich an den Kopf. Ich fragte: "Vielleicht sollten wir Genosse Kapitonow informieren?" Der Kurator sagte: "Wir werden das durchziehen, sie ins Flugzeug setzen, winken und dann bekommen wir einen Bonus. Ab dem Moment begleitete er uns zum Mittagessen ins "Metropol". Beim Abschied im Flughafen umarmten und küssten wir uns und weinten. Ich habe tatsächlich einen Bonus bekommen. Und als der Kurator des ZK der KPdSU mich später sah, fragte er leise: "Wie geht es Dir, hast Du dich erholt? Was haben wir es uns gut gehen lassen!"

War er vom sowjetischen Geheimdienst KGB?

Klar. Aber Ende der 70er Jahre war alles schon korrupt, auch der KGB. Seine Mitarbeiter interessierten sich eher für Klamotten, Währung und alles Mögliche. Aber die deutschen Schwulen trauten ihm nicht ganz. Sie fragten mich: "Bist du sicher, dass dieser Mann wirklich Sympathie für die Schwulenbewegung hat?" Ich sagte: "Wenn er dagegen wäre, hätte er uns alle schon längst verraten, aber er tut es nicht."

Also wussten die Vorgesetzten von nichts?

Ich weiß nicht, ob der Kurator die Informationen an Genosse Kapitonow weitergegeben hat. Klar ist, dass wir dem Sekretär des ZK der KPdSU nicht sagen sollten, dass er Schwule nach Moskau eingeladen hatte. Alles lief auf sowjetische Art ab. Von oben bis unten war es gängige Praxis, an zwei gegensätzlichen Überzeugungen gleichzeitig festzuhalten.

Die Kulturwissenschaftlerin Larisa Beltser-Lisyutkina ist ehemalige Professorin der Freien Universität Berlin.

Das Gespräch führte Dmitry Vachedin.