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Weltkulturerbe BVG? Aber ja!

Kate Ferguson
23. Dezember 2019

Die Berliner Verkehrsbetriebe haben eine Kampagne gestartet, um als Weltkulturerbe anerkannt zu werden. Kate Ferguson findet, die BVG verdiene einen Platz in derselben Liga wie Machu Picchu und Taj Mahal.

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Berliner Buslinie 100
Bild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Ich bin ganz begeistert über diese Kampagne der Berline Verkehrsbetriebe BVG, mit der sie erreichen will, dass der öffentliche Nahverkehr Berlins als Weltkulturerbe anerkannt wird. Das Video, mit der die Aktion gestartet wurde, zeigt eine Reihe von lächerlichen, aber gleichwohl überaus realitätsgetreuen Bildern einer sich verändernden Stadt: eine hippe Bar, in der die Leute Mundwasser-Drinks in sich hinein kippen; ein Radfahrer, der ohne ersichtlichen Anlass mit einer Tiermaske unterwegs ist; ein Ober, der ausschließlich Englisch spricht. 

Das Gegenmittel für solcherart Aufgeblasenheit sind die durch und durch geerdeten Berliner Verkehrsbetriebe, wo man sich darauf verlassen kann, an ruppige Fahrer zu geraten, in überfüllten, vermüllten Waggons zu fahren und das mit regelmäßiger Verspätung. Mit anderen Worten, ein Biotop von seltener und wertvoller Konstanz, das erhalten bleiben muss.   

Deutschland Berlin Streik der BVG | U-Bahn-Passagiere
"Überfüllte, vermüllte Waggons" - U-Bahn in BerlinBild: Reuters/F. Bensch

Das „wahre Berlin"

Man spürt, dass die Selbstgeißelung der BVG in ihrem Film in einem offenkundigen Selbstbewusstsein gründet. Niemand, nicht einmal ein Transportbetrieb, macht auf seine Fehler selbst aufmerksam, wenn er sie nicht zumindest ein wenig liebenswert findet.  

Apropos Fehler - einer meiner liegt darin, dass ich nie einen Führerschein gemacht habe. Die Konsequenz: Ich kriege meine Dosis an öffentlichem Nahverkehr - ob U-Bahn, Bus oder Tram - so gut wie jeden Tag ab. Was als aufregende Affäre begann ("Ich komme überall hin, und es ist billig"), hat sich seither zu etwas völlig anderem entwickelt - einer Liebe zu dem, was sich anfühlt wie das "wahre Berlin": der Mann, der mit einem Papagei auf der einen Schulter und einer Katze auf der anderen unterwegs ist; das ohrenbetäubende, lebensbejahende Geschnatter einer Herde Kinder in ihren Warnwesten; der erschöpfte Ruf der Erzieher: "Nächste Station! Da steigen wir aus!" 

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Auch eine Art, die U-Bahn zu nutzen: Fahrgäste ohne Hose, in Berlin Bild: picture-alliance/Geisler/B. Kriemann

Oder spät nachts, eine alte Frau läßt langsam ihren Finger über die Zeilen des Korans gleiten, und im selben Waggon trinkt ein Haufen von Teenagern Berliner Kindl und lässt den Deutsch-Rap dröhnen. Früh am Morgen, kurz nach fünf, die junge Frau, die die Kaffeebude auf einem Bahnsteig der U-Bahn-Linie 8 aufschließt; die Croissants die langsam eins nach dem anderen in der Auslage auftauchen; die Männer und Frauen, die auf den Bänken dort liegen; die Gesichter, in den Schlafsäcken vergraben; die leeren Flaschen unter den Bänken, die darauf warten, bei Tagesanbruch gegen Pfand eingetauscht zu werden; der Anblick des Mannes gestern Morgen, der seine Flaschen wieder einsammelte, nachdem die Lidl-Tüte aufgerissen war; die Behutsamkeit, mit der er die Flaschen in seinem Rucksack verstaute. Die nicht alle Platz darin fanden.

Auch schlimme Sachen. Der Mann, der seine beiden kleinen Jungs am anderen Ende des Bahnsteigs verprügelt; der Kloß im Hals fünf Minuten später, wenn der Zug immer noch nicht da ist, und du dich immer noch fragst, ob du nicht eingreifen solltest. Dann schaust du wieder hin und siehst, dass die Jungs wieder herumtollen und spielen. Und der Vater guckt auf sein Handy. Und die Mutter blickt in die Ferne.

DW Kommentarbild Kate Ferguson
DW-Autorin Kate Ferguson

Alte Leute, chic im besten Sonntagsoutfit, auf dem Weg zur Oper mit der U2. Die sich erst einmal ein Glas Wein gönnen. Ein durchgeknallter Typ, der sich lauthals über seine Verschwörungstheorie auslässt. Hunde. So viele Hunde! Ihre feuchten Schnauzen, die unter den Sitzen hervorlugen. Man hört im Rattern der U-Bahn gerade noch ihr Schnaufen. Der Blick, mit dem du herauszufinden versuchst, ob Hund und Herrchen zusammen passen.

Entertainment!

Der Klang des Arabischen und Türkischen und Spanischen und Englischen und Italienischen und jeder anderen Sprache auf dem Globus. Die drei Typen mit ihrem Ghettoblaster, aus dem "Hit the Road Jack" kommt und sonst nichts. Der Flötenspieler. Die Frau in Lumpen, die das Obdachlosen-Heft verkauft und lächelt wie ein Engel, wenn du ihr eins abnimmst.

Ja, klar, es geht um die Wirtschaft. Versuchen Sie einmal in London ohne einen Fahrschein auf den Bahnsteig zu gelangen. Bänke für Obdachlose gibt's dort nicht, nur Drehkreuze. Ohne Geld hast du buchstäblich keinen Zutritt zu dieser Welt.

Obdachlosenzeitung Motz Verkäufer
Obdachlosen-Zeitung, Berliner U-BahnBild: picture-alliance/dpa

In Berlin bezahlt man 81 Euro für ein Monatsticket, und es gilt für U-Bahn, S-Bahn, Bus und Straßenbahn. In London kostet das Ticket 276 Euro, und es gilt nicht einmal für Bus oder Tram.

In den kommenden vier Jahren will die Koalition aus Sozialdemokraten, Linken und Grünen, die Berlin regiert, 25 Milliarden Euro für die Stadt ausgeben. Das meiste davon soll in den Bau von Wohnungen und Schulen fließen und in den Nahverkehr. Dafür bezahlen wir mit unseren Steuern, und wie so vieles in dieser Stadt, ist auch diese Art von Politik nicht repräsentativ für das notorisch knauserige Deutschland. Aber jeden Tag, wenn ich zur Arbeit fahre oder von dort komme, werde ich daran erinnert, wie wertvoll es sein kann, eine Sitzbank oder eine klamme Griffstange oder einfach nur einen Moment zu teilen mit jemandem, den du sonst nie treffen würdest.

In einer Welt, die immer polarisierter wird, ist solch eine Kultur wertvoll, und sie ist es wert, bewahrt zu werden.