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Weit werden

10. Juni 2016

Muss man sich breit machen, um genug Platz zu haben? fragt sich Angelika Obert. Eine chassidische Geschichte erzählt, wie es auch anders geht.

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Bild: picture-alliance/dpa/M. Gambarini

Auf einem schmalen Bänkchen

Rabbi Samuel erzählte von seinem Lehrer Rabbi Rafael von Berschad: „Auf einer Reise im Sommer rief er mich, ich soll mich in seinen Wagen setzen. Ich sagte: „Ich fürchte, ich werde es euch dann zu eng machen.“ Da sagte er zu mir in einer Weise besonderer Zuneigung: „Lass uns einander mehr lieben, dann wird uns weit sein.“ Und nachdem wir gebetet hatten, sagte er zu mir: „Gott ist ein großer Freund.“ (1)

So eine der chassidischen Geschichten, die Martin Buber gesammelt hat.

Eine Geschichte, die seltsam klingt in einer Zeit, wo im Zug doch alle lieber zwei Sitze für sich allein haben und drangvolle Enge oft als Zumutung empfinden. Genug Platz – das muss auf jeden Fall jemand haben, der viel Verantwortung trägt, muss erster Klasse fahren oder hinten in einem richtig großen Auto. Und dagegen nun dieser jüdische Lehrer, der vermutlich in einem elenden Karren auf einem schmalen Bänkchen durch Galizien zieht und sich dünne macht, damit sein junger Schüler neben ihm Platz nehmen kann: „Lass uns einander lieben, dann wird uns weit werden!“

Ohne Angst, aber mit Zwischenraum

Einander lieben – das heißt hier wohl: Lass uns keine Angst haben, einander nah zu kommen. Du musst keine Angst vor mir haben, weil ich eine Respektsperson bin. Und ich werde keine Angst davor haben, dass mir vielleicht ein Zacken aus der Krone fällt, wenn du mich so ganz aus der Nähe erlebst. So souverän ist der alte Mann, dass er den hierarchischen Abstand nicht nötig hat. Aber die Reise ist lang. Da könnten sie sich bei dem stundenlangen Geruckel doch gegenseitig auf die Nerven gehen, weil sie sich nun mal zu nah auf der Pelle sitzen. Ein bisschen Abstand ist nötig, damit aus der Nähe keine Enge wird. Der Rabbi schafft Raum, indem er noch einen Dritten dazu holt – den großen Freund, wie er Gott nennt. Er betet mit dem jungen Mann, der das Bänkchen mit ihm teilt. Er weiß wohl: Einander lieben, so dass uns weit wird, das können wir nur, wenn wir Gott zwischen uns Raum geben. In seiner Weite hat alles seinen Platz und nichts, was gerade stört, ist so groß, dass wir deswegen die Nerven verlieren müssten.

Den Impuls der Abwehr überwinden

Sehr fromm und fern erscheint diese Geschichte aus einer versunkenen Welt, die davon spricht, wie Zwei es auch in der kleinsten Karre gut miteinander aushalten können. Ich mag sie, weil sie wie ein Blitzlicht ins Heute fällt, wo fast alle immer das Gefühl haben, dass es „zu eng“ wird – im Terminkalender, in Deutschland oder in der Familie. Wo wir in unserm reichen Land auch immer mehr Platz brauchen, um uns wohl zu fühlen: zwei Sitze in der Bahn, zwei Bäder zu Hause. Man muss sich doch ausbreiten können!

Die Geschichte vom Rabbi erzählt, wie Weite nicht dadurch entsteht, dass einer sich breit macht und den Andern von sich fern hält. Dass das Weitwerden etwas mit einer inneren Haltung zu tun hat, die sich auch für den frommen Rabbi ja nicht einfach von selbst einstellt, wenn er denn so schön sagt: „Lass uns einander mehr lieben, dann wird uns weit werden!“ Auch er kennt offenbar den Impuls der Abwehr – oh, wo bleibt da meine Ruhe, wenn mir einer auf die Pelle rückt – und überwindet ihn, indem er die Situation annimmt. Und es Gott überlässt, den Zwischenraum zu zu schaffen, der verhindert, dass es „zu eng“ wird - wie es ja werden kann, wenn ich glaube, die Eigenheiten des Andern ganz persönlich nehmen zu müssen, so, als ob sie nur dazu da wären, mich zu stören und zu ärgern.

Gott ist ein großer Freund

Der Rabbi ist sehr weise und ich bin es nicht. Ich kenne immer wieder viele Gründe, warum es mir hier und da zu eng wird – meistens eher innerlich als äußerlich. Ich weiß, dass sie sich nicht einfach durch ein Gebet wegzaubern lassen. Und doch hilft es mir, daran zu denken: Die Weite im eigenen Herzen hat damit zu tun, dass ich Ja sagen kann zu denen, die auf mich zukommen. Weil ich in Gott den Freund sehe, der Raum schafft zwischen uns, Achtungsraum zwischen den Nächsten und den Fernsten.

(1) aus: Eleonore Beck/Gabriele Müller (Hg), Martin Buber im Gespräch mit Gott und den Menschen, Benno, Leipzig 2003, S. 51 (Auszug)