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Was Armut mit der Psyche macht

18. Oktober 2022

Eine Begegnung in Hamburg: Olivier David stammt aus armen Verhältnissen. Erst spät erkennt er: Ich bin psychisch krank. Sein Ausweg: Er schreibt.

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Ein junger Mann in blauem Pulli steht vor einem Backsteinhaus
Lebensrealitäten von unten seien in der Literatur kaum vertreten, sagt Olivier DavidBild: Jan Lops

Den Geräuschen der Armut hatten die dünnen Wände in seinem Elternhaus nicht viel entgegenzusetzen: "Nachbarn, die streiten; eine immer wieder heulende Mutter; der Pissstrahl eines im Stehen pinkelnden Nachbarn". Wann er gemerkt hat, dass seine Kindheit nicht normal war? Als das SEK klingelte, um aus dem Fenster eine bessere Schussposition auf den benachbarten Bankräuber zu haben. Als im Hauseingang ein Molotowcocktail explodierte. Als er im Hinterhof in eine Spritze trat. "Da versteht jedes Lebewesen, dass das nicht normal ist."

Olivier David ist Anfang der 1990er Jahre im Hamburger Stadtteil Ottensen aufgewachsen. In seiner Erinnerung prägen Gemüsehändler und Moscheen das Straßenbild, sind die Hausfassaden schäbig, wohnt in jedem zweiten Haus ein Dealer. Heute tragen viele Fassaden Pastelltöne. Die Fabrikgebäude beherbergen Lifestyle-Bäckereien. Der Cappuccino kostet 4,20 Euro.

Geldsorgen und Gewalt

Das Elternhaus von Olivier David: der selbe Backsteinbau wie damals. Die Fenster der Wohnung so tief, dass man von draußen fast reinschauen kann. Hier wohnte David mit Mutter, Vater, großer Schwester. Zwischen Geldsorgen und häuslicher Gewalt.

Ein junger Mann von hinten läuft durch eine Straße. Links von ihm ist eine Wand mit Graffiti besprüht.
Olivier David auf dem Weg durch sein altes Viertel. Er spricht über Ohnmacht, Wut und ArmutBild: Anna Carthaus/DW

Mit 20 Jahren zog er aus. Heute ist Olivier David nur im Viertel zu Besuch. Er ist ein zugewandter Typ, mitteilsam - seine Erzählung eine Gratwanderung zwischen extrovertiert und schüchtern. Die Szenen aus der Vergangenheit spult er ab wie Abenteuergeschichten. Es gab nicht viel anderes, mit dem er angeben konnte.

Seine Mutter stamme aus einer Familie, in der Armut über Generationen vererbt wurde. Damit die Familie zu essen hatte, habe der Großvater auf den Feldern Lebensmittel geklaut. Ansonsten sei seine Mutter so oft "zusammengetrümmert" worden, dass sie mit 17 Jahren von zuhause abhaute. Fortan, erzählt ihr Sohn, boten ihr psychische Erkrankungen Obdach.

Sein Vater habe Zuflucht in diversen Drogen gesucht, sich Kokain manchmal direkt in die Vene gespritzt. Er sei einer der gefährlichsten Menschen, die er kennt: jähzornig, gewalttätig, wegen Drogendelikten zweimal im Gefängnis. Sein Gebrüll verfolge ihn bis heute. Als David zehn Jahre alt war, habe der Vater rund 100.000 Euro Schulden angehäuft. Er ging ins Ausland, ließ seine Familie mit einem Teil der Schulden zurück. Vorbildfunktion? Fehlanzeige.

Ein älterer Mann mit lockigen Haaren legt seine Arme auf die Schultern eines kleinen Jungen und eines Mädchens. Die drei stehen auf dem Balkon eines Backsteingebäudes
Seinen Vater beschreibt Olivier David (li.) als einen der gefährlichsten Menschen, den er kenntBild: Privat

Im Sommer 2019 hat David sein Schlüsselerlebnis, berichtet er: Er ist Anfang 30, eigentlich geht es ihm gut. Er hat einen Job, eine Beziehung, endlich keine Geldsorgen. Doch plötzlich ist da dieser rasende Hass. Ein vertrautes Gefühl aus der Vergangenheit. Bloß habe es ihn in jenem Sommer vollkommen unvermittelt überfallen. Er analysiert: Wut ist der Zustand, der ihn am Leben hält. Und er erkennt auch: Wut ist das Gefühl, das ihn sein Leben lang klein gehalten hat.

Olivier David beginnt eine Therapie. Ab da wird alles schlimmer: Er muss stundenlang weinen, hat Ohrensausen und Panikattacken. Er erhält die Diagnosen posttraumatische Belastungsstörung, Depression, ADHS.

Ein junger Mann mit Brille steht an einem Geländer und liest in seinem Buch "Keine Aufstiegsgeschichte"
Mit dem Schreiben hat Olivier David einen Ausweg aus Wut und Traurigkeit gesuchtBild: Anna Carthaus/DW

Er ist überzeugt: Diese Wut und seine psychischen Beschwerden, die haben System. Ihren Ursprung verortet er in seinem Aufwachsen in Armut. Um sich aus seiner Ohnmacht zu befreien, schreibt er seine Geschichte auf.

Wissenschaftler: Armut schadet der Psyche

Wissenschaftlich ist der Zusammenhang zwischen Armut und psychischen Erkrankungen gut belegt: Menschen mit niedrigem Einkommen erkranken zwischen eineinhalb- und dreimal häufiger an einer Depression oder Angststörung als jene mit hohem Einkommen.

Dabei sei nicht nur die absolute Armut entscheidend, betont der Psychiater Andreas Heinz von der Berliner Charité, sondern insbesondere die relative: Wie groß also der Unterschied innerhalb einer Gesellschaft oder Gruppe ist. Er erklärt: "Stresserfahrungen sind in der Regel ausgeprägter, je ärmer ein Mensch ist."

Die Medizinsoziologin Jelena Epping von der Medizinischen Hochschule Hannover sagt, dass Armut bereits während der Schwangerschaft negative Auswirkungen auf  die psychische Gesundheit des ungeborenen Kind haben kann. Häufig seien auch negative Rollenbilder und eine fehlende Sensibilisierung ein Problem: Weiß ich, was es bedeutet, psychisch krank zu sein und wo ich mir Hilfe suchen kann?

Psychische Erkrankungen wiederum können dazu führen, betonen die Experten, dass Menschen sich zurückziehen, dass sie Kontakte, Job und Geld verlieren oder in eine Abwärtsspirale aus Wut und Aggressionen, Alkohol und Drogen geraten.

Ein System aus Chaos und Mangel

Armut, das bedeutet für Olivier David nicht hungern oder frieren. Armut, das ist für ihn der Mangel an Ressourcen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Er sagt: "Menschen, die in Armut leben, werden nie wissen, welche Entscheidungen sie getroffen hätten, hätten sie eine wirkliche Wahl gehabt". 

Ein junger Mann mit Wollmantel und grünem Kapuzenpulli steht vor einem Müllberg. Auf der rechten Seite ein roter Mülleimer an einer Straßenlaterne.
Armut nehme den Menschen die Möglichkeit zu freien Entscheidungen, sagt Olivier DavidBild: Anna Carthaus/DW

In seiner Kindheit habe er sich oft ohnmächtig gefühlt: Weil er nicht wusste, wie er mit dem gewalttätigen Vater und der überforderten Mutter umgehen sollte. Weil die Leute in der Schule lachten, wenn er eine Frage stellte. Weil er die sozialen Codes wohlhabender Menschen nicht verstand.

Ohnmacht erlaube drei Reaktionen, sagt er. Erstarren, wegrennen oder angreifen. Der Junge Olivier entschied sich meist für Angriff.

Schlägereien und Graffiti

Heute kann man kaum glauben, dass dieser schlaksige Typ mit den Segelohren sich in seiner Kindheit so oft geprügelt haben soll. An Olivier David im Jahr 2022 wirkt alles zurückgenommen und bedächtig: Wortwahl, Stimme, Kleidung, Gang.

Als Zweitklässler aber habe er oft ältere Kinder gehauen, erinnert er sich. Im Unterricht einen Stuhl aus dem Fenster geworfen, später dann Schlägereien im Viertel. Mehrmals musste seine Brille dran glauben. Meist ging die Sache glimpflich aus. Er rannte früh genug weg.

Ein Junge mit durchsichtiger Brille und dunklem Pullover klettert in einem weißen Türrahmen hoch und grinst in die Kamera
Aufstieg? Der sei in seiner Biografie nicht vorgesehen gewesen, sagt Autor DavidBild: Privat

Was er sich damals gewünscht hätte? Eltern, die ihr eigenes Leid zurückstellen können. Die Kapazitäten für seine Ängste und Nöte haben. Und Geld natürlich, damit das möglich ist.

Scheitern als Selbstzweck

Olivier David geht ohne Abitur von der Schule. Stattdessen arbeitet er: an der Kasse, auf dem Bau, im Lager. Er kifft täglich, trinkt fast jeden Tag. Kurzum: Er kopiert, was er kennt. Das Scheitern sei für ihn zu einem Nachhausekommen geworden. Diese "Tagesration an Niederlage, die ich brauchte, um mein Selbstbild aufrechtzuerhalten".

Ein bisschen wehleidig klingt das manchmal. Damit kokettiert der 34-Jährige. Stets sei er der schwache Junge gewesen. Der, dem nichts zugetraut wurde. Unzulänglichkeit ist das Wort, das er immer wieder benutzt. Eine Art Selbstdiagnose, aber auch Erklärung, Anklage, Waffe: Wer sich selbst lächerlich macht, kann nicht mehr verspottet werden. Blöd nur, wenn das zum Selbstläufer wird: "Weil eigentlich willst du ja ernst genommen werden".

Systemkritik

Olivier David will ernst genommen werden. Es geht ihm ums große Ganze: Um ein Klassensystem, das Aufsteigergeschichten feiere; das von den Leuten unten aber nicht erwarte, dass sie es nach oben schaffen.

"Ich habe immer gedacht, alles wäre meine Schuld", sagt er. "Irgendwann habe ich verstanden: Du hattest schlechtere Karten und deine Probleme sind weniger individuell." Ein Spaziergang mit Olivier David in fünf Worten: Ohnmacht. Wut. Armut. Klasse. System. 

Graffiti auf einem grauen Block auf einem Parkdeck mit der Aufschrift Depression
Depression auf grauen Mauern - mit Graffiti und Kiffen hat der junge Olivier David sich die Zeit vertriebenBild: Anna Carthaus/DW

Lagen seine psychischen Probleme vielleicht nicht nur an der Armut, sondern an seiner speziellen Familienkonstellation? Könnten wohlhabendere Menschen ähnliche emotionale Nöte haben? Jaja, mag schon sein, sagt er. Aber die Armut mache es eben ungleich wahrscheinlicher, psychisch zu erkranken.

Schreiben als Selbstfürsorge

Sein Ausweg: Das Schreiben. Hier leistet er sich Zeit für die Auseinandersetzung mit sich selbst. Zeit, die er sich in seinem Alltag sonst nicht zugesteht. Inzwischen sei er in einer "guten Ernüchterung" angekommen. David wirkt ernst dabei. Seine Mutter habe sich darum bemüht, dass es ihren Kindern besser gehe als ihr selbst. Aber inmitten psychischer Not und Geldsorgen sei für die Bedürfnisse des Sohnes kein Raum gewesen. 

Damals sei er unversöhnlich gewesen, inzwischen dankbarer. Er klingt dennoch ein wenig bitter. Dem Vater, der sich heute von Bier, Kiffen und Arbeitslosengeld ernähre, attestiert er, "als Vater nahezu komplett gescheitert zu sein".

Ein junger Mann im Wollmantel und mit Brille steht vor einem Geländer auf einem erhöhten Platz. Er lacht schüchtern. Hinter ihm in der Tiefe ein Busbahnhof.
Schlecht bezahlt, aber selbstbestimmtBild: Anna Carthaus/DW

Mit Mitte 20 besucht David eine Schauspielschule. Mit 30 Jahren beginnt er ein Volontariat bei einer Hamburger Zeitung, das er wegen psychischer Beschwerden vorzeitig beendet. Inzwischen arbeitet er als Journalist und Autor, studiert am Literaturinstitut Hildesheim. Schlecht bezahlt, sagt er, aber selbst bestimmt.

Gefangen zwischen den Welten

Lebensrealitäten von unten seien in der Literatur kaum vertreten. Er schreibt: "Diesen Hass, nicht repräsentiert zu werden von den Medien, von Kultur, Politik und Gesellschaft, den nehme ich mit: auf jede Bahnfahrt, in jedes Museum, in jedes Theater". Wenn Literatur kein inklusiver Ort ist: "Wie sollen Menschen, die ein hartes Päckchen zu tragen haben, vom Wert der Kunst zehren, wenn sie sich gar nicht angesprochen fühlen?"

Immer wieder redet David über "seine Leute". Unklar bleibt, wen genau er damit meint. Denn eigentlich beschreibt er sich als einen, der nie zugehörig war: Im migrantisch geprägten Haus war er der Alman, der Deutsche. In der Schule der Junge aus dem Viertel. Im Viertel der Waldorfschüler. Ein permanentes Außenseiterdasein. Für ihn: die perfekte Voraussetzung zum Schreiben.

Mit dem Schreiben wolle er seinen Leuten im richtigen Moment die richtigen Sätze ins Ohr spülen, sagt er. Das Problem: Die, um die es geht, lesen sein Buch vermutlich nicht.