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Warum Sprache dekolonialisiert werden muss

Manasi Gopalakrishnan
3. Juli 2022

Woher stammen rassistische Wörter und Ausdrücke? Wie können diese verletzenden Bezeichnungen ersetzt werden? Eine neue Rassismuskritik geht der Frage nach.

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Ein Poster von 1907 zeigt rassistische asiatische Stereotype in Südamerika
Antiasiatischer Rassismus in Südamerika im Jahr 1907Bild: public domain/Rubén Polar

"Worte können sein wie winzige Arsendosen: Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da." Dieses Zitat stammt aus dem Werk "LTI - Notizbuch eines Philologen" des deutschen Literaturwissenschaftlers Victor Klemperer von 1947 und steht dem neuen Buch von Susan Arndt voran. "Rassistisches Erbe: Wie wir mit der kolonialen Vergangenheit unserer Sprache umgehen" heißt ihr im Mai im Duden-Verlag erschienenes Werk, das sich mit Rassismus in der deutschen Sprache befasst.

Klemperer war der Sohn eines Rabbis, er konvertierte jedoch 1912 zum Protestantismus. Trotzdem wurde ihm unter den Nazis sein akademischer Titel aberkannt, von 1940 bis 1945 lebte er gemeinsam mit seiner Frau in verschiedenen sogenannten Judenhäusern in Dresden und entkam der Deportation 1945 nur mit viel Glück.

Der Philologe führte während der Kriegsjahre Tagebuch. Diese Aufzeichnungen wurden die Grundlage seiner späteren Publikationen. In den Tagebüchern sind auch seine Beobachtungen, wie die NS-Propaganda auf die deutsche Sprache einwirkte, dokumentiert. Dies war die Basis seiner viel beachteten Analyse nach dem Zweiten Weltkrieg.

Victor Klemperer, Porträt.
Victor KlempererBild: Fotoreport Aufbau Verlag/dpa/picture alliance

Ein halbes Jahrhundert später versucht die Literaturwissenschaftlerin Susan Arndt aus Bayreuth eine ähnliche Analyse und untersucht die Wirkung von Rassismus auf die deutsche Sprache - aus post-kolonialer Perspektive.

Die kolonialen Wurzeln von Rassismus

Arndt hat ihr Buch nach Jahren des Studiums über Rassismus in Deutschland geschrieben: "Während ich den Rassismus analysiert habe, wurde mir zunehmend bewusst, dass Worte wie Wegweiser dieses Rassismus fungierten. Sehr viel rassistisches Wissen und Überzeugungen manifestieren sich in ganz konkreter Weise durch Wörter", sagt sie gegenüber DW. "Wenn wir auf diese Wörter verzichten, geht natürlich der Rassismus nicht weg, aber wir können den Rassismus durch ihre Analyse besser verstehen."

Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin merkt an, der Begriff "Rasse" sei bereist im Jahre 1492 verwendet worden, als Königin Isabella I. von Kastilien und ihr Mann Ferdinand V. das Königreich Granada in Südspanien eroberten, die letzte Bastion der muslimischen Mauren in Spanien. "Nach dieser Eroberung begann Königin Isabella Juden und Muslime auszuweisen, ihren Besitz zu konfiszieren und Sondersteuern zu erheben, unter der Prämisse, dass das Christentum den anderen Religionen grundsätzlich übergeordnet sei", so Arndt. Das Geld dieser Eroberungszüge wurde benutzt, um Christoph Kolumbus' Expedition nach Indien zu finanzieren.

Der Empfang von Christoph Kolumbus in Barcelona, Kupferstich, Kolumbus präsentiert dem Königspaar ein "Indianer"-Paar, drumherum stehen Menschen und schauen zu.
Bei seiner Rückkehr brachte Kolumbus dem spanischen Königspaar "Anschauungsexemplare" mitBild: Bildagentur-online/Sunny Celeste/picture alliance

Die Legitimierung kolonialer Eroberungen

Bekanntermaßen endete diese Reise nicht in Indien, sondern in Amerika. Nach Kolumbus kamen die spanischen Eroberer und die europäischen Siedler und breiteten sich auf dem Kontinent aus - schließlich war hier eine neue Welt entdeckt worden.

Wie Arndt in ihrem Buch darlegt, wurden Völkermorde in den eroberten Territorien begangen, während im Europa der frühen Neuzeit humanistische Ideale propagiert wurden. Da das zu den europäischen Prinzipien in krassem Widerspruch stand, mussten die europäischen Eroberer Wege finden, etwas zu legitimieren, für das es eigentlich keine Legitimation gab.

Das Konzept von "Rasse" wurde propagiert, um koloniale Praktiken zu rechtfertigen, wobei Christen - insbesondere weiße christliche Männer - zur überlegensten Kategorie gehörten. Diese Idee wurde so erweitert, dass aufgrund der Hautfarbe Menschen verschiedenen "Rassen" zugeordnet wurden, denen dann Qualitäten zu- oder abgesprochen wurden.

"Alles lief auf die Idee hinaus, dass weiße Menschen die einzigen waren, die zum Fortschritt fähig seien, die einzigen mit Vernunft und Kultur", betont Arndt. Alles, was der Bildungselite näher war, wurde höher angesehen als Menschen, die naturnäher lebten. Dies diente dann den Europäern als Rechtfertigung, "die Natur zu besiedeln und die Menschen, die in ihr lebten, zu kolonisieren… So wurde das rassistische System aufgebaut", erklärt Arndt.

Die kranken Rassetheorien der Nazis

Schwarze Menschen wurden als minderwertig angesehen, ohne Vernunft und Kultur, schließlich wurde so die Versklavung von Menschen aus Afrika gerechtfertigt. Diese Vorstellung sei von den weißen Menschen verinnerlicht worden - sie betrachteten sich als höherwertig, ergänzt Arndt.

Öffentlicher Verkauf von Sklaven in den USA, Sklavenmarkt, Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert, Weiße Männer in Zylindern lassen sich schwarze Menschen vorführen, die zum Verkauf stehen.
Ein Sklavenmarkt in den USA, 1863Bild: Abecasis/Bildagentur-online/picture alliance

Im 19. und 20. Jahrhundert wurde diese Kategorienbildung durch den Sozialdarwinismus - eine pseudowissenschaftliche Theorie, welche die Entwicklung von Gesellschaften und sozialen Verhältnissen als Resultat eines Kampfes ums Überleben erklärte, in dem nur die Stärksten und Erfolgreichsten sich durchsetzen - weiter gestützt.

Nach der Machtergreifung propagierten die Nationalsozialisten eine weitere Pseudo-Wissenschaft: die der Eugenik oder Rassenhygiene, die davon ausging, dass eine "Rasse" sich weiter optimieren ließe - und ermordeten systematisch rund sechs Millionen Juden sowie Menschen mit Behinderung, Homosexuelle, Sinti und Roma und weitere rassistisch markierte Menschen.

Victor Klempners Buch "LTI” zeigt auf dem Cover den NS-Propagandaminister Joseph Goebbels und eine große Anzahl deutscher Soldaten.
""LTI" steht für "Lingua Tertii Imperii: die Sprache im Dritten Reich" und ist ein Klassiker unter den Büchern über Sprache und Sprachgebrauch der Nazi-Propaganda

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mit Rassentheorien nur noch selten gearbeitet, wie Arndt erläutert, aber Rassismus verschwand deswegen natürlich nicht. Zwar wurde Gleichheit eingefordert, aber "die globalen politischen und finanziellen Machtverhältnisse, die durch den Kolonialismus über Jahrhunderte aufgebaut worden waren, wurden nicht angetastet", so die Autorin. "Der Kolonialismus ist zu einem politischen System geworden, der viele intellektuell beeinflusst hat, der Menschen dazu gebracht hat, Menschen anhand ihrer Hautfarbe wahrzunehmen, ob sie das wollen oder nicht."

Deswegen werden noch heute, obschon wir denken, dass alle Menschen gleich sind, viele Schwarze, Indigende und People of Color ganz kontinuierlich von weißen Privilegien ausgeschlossen. Und weil weder Strukturen, Institutionen noch Diskurse oder moralische Werte ohne die Sprache möglich seien, sei es sehr wichtig, sich mit Rassismus in der Sprache auseinanderzusetzen, sagt Arndt.

Fünf Wege um rassistische Sprache zu identifizieren

Um einen Sprachgebrauch ohne rassistisches Vokabular zu ermöglichen, müssten Menschen in ihrem Sprachgebrach aktiv entscheiden, welche Worte sie benutzen - und so entscheiden, welche Teil des aktiven Wortschatzes bleiben. Deswegen sei es sehr wichtig, einen gewissen Aufwand zu betreiben, um rassistisches Vokabular zu erkennen, schreibt Arndt.

Sie schlägt fünf Wege vor, um rassistische Ausdrücke zu identifizieren: 1. Wann und wo hat der Ausdruck seinen Ursprung? Stammt er aus der Kolonialzeit und wie zeigt sich das? Wurde seine ursprüngliche Bedeutung geändert und was davon ist heute übrig geblieben? 2. Impliziert der Ausdruck, dass es "Menschenrassen" gibt? Suggeriert der Ausdruck, dass die angesprochene Person "naturnah" und "entfernt von der Vernunft" ist? 3. Greift der Ausdruck auf koloniale Vorstellungen oder Klischees zurück, zum Beispiel auf eine "halbnackte Person, die Federn trägt"? 4. In welchem Kontext wird der Ausdruck verwendet? 5. Schließt der Ausdruck Menschen von einer "weißen” Norm aus?

Sie gibt mehrere Beispiele aus der deutschen Sprache, wie "Ureinwohner", "Buschmann", "Eskimo" und viele mehr. In einem späteren Kapitel schlägt Arndt andere Bezeichnungen vor, die den rassistischen Hintergrund offenlegen, etwa: "Diaspora", "BiPOC", "People of Color".

Im Fazit plädiert Arndt dafür, solche Ausdrücke in der täglichen Sprache zu identifizieren - aber nicht zu verbieten. "Ich halte nichts von Sprachverboten. Das bringt uns gar nichts, denn selbst wenn die Ausdrücke nicht gesagt werden, reflektieren die Menschen nicht, und ändern auch nicht die internalisierten Bilder. Das führt nicht zu einer Änderung der Machtstrukturen."

Es gehe darum, dass die Menschen nicht mehr zögern, über rassistische Worte und Begriffe zu sprechen, so dass es in der Gesellschaft zu mehr Verständigung kommt - auch unter weißen Menschen. Ideal wäre, wenn diese sich dann selbst von rassistischem Sprachgebrauch distanzieren. Das sei das Ziel ihres Buches, sagt Susan Arndt.   

Adaption aus dem Englischen: Julia Hitz.

Korrektur, 8. Juli 2022: In diesem Artikel hieß es zuvor, die Wurzeln des Rassismus ließen sich bis ins Jahr 1492 zurückverfolgen; dieser Satz wurde dahingehend geändert, dass sich dies auf die Terminologie im Zusammenhang mit dem Konzept der "Rasse" bezieht und nicht auf die Rassendiskriminierung selbst, die es in der gesamten Geschichte der Menschheit gegeben hat. Wir entschuldigen uns für den Fehler.