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Israel: Würde Benjamin Netanjahu in Deutschland verhaftet?

24. Mai 2024

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu droht ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes. Und Deutschland ist hin- und hergerissen zwischen Staatsräson und Völkerrecht.

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Bundeskanzler Scholz und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sprechen am einer UN-Vollversammlung in New York miteinander
Eine schwierige Beziehung, aber eine Verhaftung? Bundeskanzler Olaf Scholz und Israels Premier Benjamin Netanjahu bei der UN in New YorkBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Das sind genau die Schlagzeilen, die die Bundesregierung auf jeden Fall verhindern wollte: "Scholz-Sprecher deutet an: Deutschland würde Netanjahu verhaften", titelte das auflagenstärkste Boulevard-Blatt des Landes, die "Bild-Zeitung",  am Mittwochabend (22.5.2024). Und auch die "Welt" schrieb: "Deutschland würde Netanjahu ausliefern, deutet der Regierungssprecher an."

Ist das wirklich denkbar? Dass Deutschland den politischen Führer des israelischen Staates festnehmen oder gar ausliefern würde, sollte es einen entsprechenden Haftbefehl des "Internationalen Strafgerichtshofes" gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu geben? Für den Vorsitzenden des stärksten Oppositionspartei, den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, ist allein der Gedanke daran ein Unding: "Das Schweigen der Bundesregierung bis hin zur Andeutung des Regierungssprechers, dass Netanjahu auf deutschem Boden verhaftet werden könnte, wird nun wirklich zum Skandal", sagte Merz der "Bild-Zeitung".

Antrag auf Klage gegen Netanjahu und Minister Gallant

Was war passiert? Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH), der britische Anwalt Karim Khan, hatte am Montag (20.5.24) wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen Haftbefehle beantragt gegen Netanjahu und Israels  Verteidigungsminister Yoav Gallant sowie gegen drei Anführer der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas.

Zwei Männer fahren ihre Habseligkeiten auf einem Rollstuhl durch zerstörte Gebäude im Gaza-Streifen.
Menschen in Gaza-Streifen Mitte Mai. Der Chefankläger des Strafgerichthofes wirft Netanjahu vor, Hunger als Kriegswaffe einzusetzenBild: dpa/picture alliance

Der Grund: Das große Leid der Menschen im Gazastreifen, nachdem Israel militärisch hart auf den Hamas-Terrorangriff am 7. Oktober vergangenen Jahres reagiert hat. Khan wirft Netanjahu und seinem Minister konkret vor, das Aushungern der Menschen im Gaza-Streifen als Kriegswaffe einzusetzen.

Es sind also Anträge auf Haftbefehle gegen Anführer sowohl aus Israel als auch der Hamas, die von zahlreichen westlichen Ländern, auch von Deutschland, als Terrororganisation eingestuft wird. Khan hatte seine Anträge, die nun vom Gerichtshof geprüft und entschieden werden sollen, in einem Atemzug verkündet. Stellte er damit den israelischen Regierungschef und die drei genannten Hamas-Führer auf eine Stufe?

Das vor allem erregte Merz: "Schon die Beantragung des Haftbefehls zugleich gegen Premier Netanjahu und Hamas-Führer Sinwar ist eine absurde Täter-Opfer-Umkehr", sagt der Chef der CDU.

Eine angespannte Regierung

Wie schwer sich die deutsche Regierung tatsächlich mit einer klaren Positionierung in diesem Fall tut, machte am Mittwoch die Pressekonferenz mit Steffen Hebestreit deutlich, dem Sprecher von Bundeskanzler Olaf Scholz. Sichtlich angespannt musste Hebestreit am Mittwoch zunächst Gerüchten entgegentreten, Scholz sei von der Ankündigung des Chefanklägers "erschüttert" gewesen.

Regierungssprecher Steffen Hebestreit steht hinter Kanzler Scholz, der nur unscharf zu erkennen ist
Der Mann hinter dem Kanzler: Regierungssprecher Steffen Hebestreit ist ein enger Vertrauter von Bundeskanzler Olaf ScholzBild: Florian Gaertner/photothek/picture alliance

Hebestreit sagte: "Ich kann nicht von Erschütterung und Ärger berichten. Wir haben sehr deutlich gemacht, dass wir die Gleichsetzung sehr kritisch sehen. Und wir haben auf Unterschiede hingewiesen, was die Verfasstheit des Staates Israel, seiner unabhängigen Justiz angeht."

Wäre ein Haftbefehl gegen Netanjahu überhaupt rechtens? 

Also sind auch die Anschuldigung des Gerichtshofes mit Sitz in den Haag unterschiedlich zu bewerten? Weil einmal ein Rechtsstaat betroffen ist und einmal nicht? Tatsächlich haben auch Völkerrechter Bedenken, ob Khan eine Klage gegen Netanjahu überhaupt hätte beantragen dürfen. 

Denn zu den festen Regeln des Gerichtshofes gehöre es, so der Völkerrechtler Constantin Ganß in der Zeitung "Tagesspiegel" aus Berlin, dass er nur dann aktiv werden könne, wenn der betreffende Staat nicht willens oder in der Lage sei, selbst Ermittlungen durchzuführen. In Diktaturen etwa. Aber wohl kaum im demokratischen Israel.

Das Dilemma der deutschen Regierung: Deutschland gehört zu den großen Unterstützern des Internationalen Strafgerichtshofes. der seit 2002 bei Verstößen wie Völkermord oder Kriegsverbrechen ermittelt und auch Urteile fällt. Gegen Personen, nicht gegen Staaten. Allein 2023 überwies die Regierung 20 Millionen Dollar an das Gericht. 123 Länder unterstützen die Organisation, die nicht Teil der Vereinten Nationen ist. Aber wichtige Staaten wie die USA oder Israel tun das nicht.

Deutschland und das besondere Verhältnis zu Israel

Andererseits: Für Deutschland ist die Unterstützung Israels Staatsräson, auch als Folge der dunkelsten deutschen Geschichte mit der Ermordung von Millionen Juden während des NS-Diktatur. Gilt das auch für den Regierungschef Netanjahu persönlich? Hebestreit sagte dazu: "Grundsätzlich sind wir Unterstützer des internationalen Strafgerichtshofes - und dabei bleibt es auch. Wir halten uns an Recht und Gesetz."

Aber auch er kritisierte das Vorgehen von Khan: "Die Gleichsetzung ist, dass der Chefankläger ein Interview beim Sender CNN gewählt hat, und dort die Beantragung der Haftbefehle sowohl gegen die drei Hamas-Führer als auch gegen den israelischen Ministerpräsidenten und den Verteidigungsminister in einem Atemzug geäußert hat."

Der britische Anwalt Karim Khan ist seit Februar 2021 Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag
Der britische Anwalt Karim Khan ist seit Februar 2021 Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den HaagBild: Chepa Beltran/LongVisual via ZUMA Press/picture alliance

Heftige Kritik an Khan, aber auch an der deutschen Regierung kam von Ron Prosor, Israels Botschafter in Berlin. "Jetzt steht die Staatsräson auf dem Prüfstand, ohne Wenn und Aber." Prosor nannte die Einlassungen der Regierung "wachsweich" und fügte hinzu: "Die Aussage, Israel habe das Recht auf Selbstverteidigung, verliert an Glaubwürdigkeit, wenn man uns die Hände fesselt, sobald wir davon Gebrauch machen."

Andere Reaktionen in anderen Staaten

Tatsächlich sind andere Staaten weit eindeutiger in ihren Statements als Deutschland, wenn sie gefragt werden, ob sie Netanjahu verhaften würden. Ungarn etwa sagt Nein. Das Land unterstützt den Strafgerichtshof, sagte Gergely Gulyas, Stabschef von Ministerpräsident Viktor Orban. Aber im Falle eines Besuches in Ungarn müsse der israelische Regierungschef nicht mit einer Festnahme rechnen.

Und schon vor Tagen hatte US-Präsident Joe Biden den Antrag aus Den Haag als empörend bezeichnet. Allerdings haben die USA den Strafgerichtshof auch nie unterstützt. Das ist in Deutschland anders - und damit wesentlich komplizierter.