1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Votum für den Untergang eines Staates?

29. Mai 2002

– Tschechen und Slowaken wählten ihren gemeinsamen Staat vor zehn Jahren nicht ab – Zerfall der Tschechoslowakei trotzdem durch Wahlen besiegelt

https://p.dw.com/p/2MqN

Prag, 27.5.2002, RADIO PRAG, deutsch, Kathrin Bock

Die Parlamentswahlen stehen vor der Tür, am 14. und 15. Juni werden die Tschechen zum dritten Mal seit der Unabhängigkeit ihres Staats ein neues Abgeordnetenhaus wählen. Grund für uns, heute einen Blick auf das Jahr 1992 zu werfen, als ebenfalls im Juni Parlamentswahlen stattfanden, die für die Zukunft des Landes von entscheidender Bedeutung sein sollten bzw. für dessen nichtexistierende Zukunft, denn damals - vor zehn Jahren - existierte die Tschechoslowakei noch.

Das Jahr 1992 begann in der Tschechoslowakei bzw. der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik, wie das Land seit April 1990 hieß, mit Verhandlungen zwischen führenden Vertretern der beiden Landesteile. Diese Verhandlungen im Januar 1992 sollten die staatsrechtliche Situation im Lande endgültig klären.

Seit der Samtenen Revolution zwei Jahre zuvor war es immer wieder zu Diskussionen und Verhandlungen zwischen Tschechen und Slowaken über den Staatsaufbau und die Rechte der beiden Teilrepubliken gekommen. Ausdruck dieser Diskussionen war bereits im März 1990 der so genannte Bindestrich-Krieg gewesen. Wochenlang diskutierten Parlament und Öffentlichkeit, bis sich die Abgeordneten schließlich auf einen neuen, provisorischen Namen für ihr Land einigten. Die Tschecho-Slowakische Föderative Republik wurde mit einem Bindestrich geschrieben, der einen Monat später von einem "und" ersetzt wurde. (...)

Im Juni 1992 fanden die ersten wirklichen freien Parlamentswahlen nach der Samtenen Revolution von 1989 statt. Zwar hatten die Tschechen und Slowaken bereits 1990 gewählt, doch diese Wahlen hatten einem Referendum gegen den Kommunismus geglichen. In der tschechischen Teilrepublik hatte damals das "Bürgerforum" gewonnen, in der Slowakei die "Gesellschaft gegen Gewalt." Beide Bündnisse waren während der revolutionären Tage des November 1989 entstanden und glichen eher einem bunten Mix verschiedenster Meinungen und Überzeugungen als einer politischen Partei. In den folgenden zwei Jahren hatten sich diese Bündnisse zerstritten und gespalten, neue politische Parteien entstanden, die nun, im Juni 1992, erstmals zu einer Parlamentswahl antraten.

Im tschechischen Landesteil wurden der im April 1991 entstandenen "Demokratischen Bürgerpartei ODS" des amtierenden Finanzministers Vaclav Klaus die meisten Stimmen prophezeit, in der Slowakei wiederum der eher linksorientierten "Bewegung für eine Demokratische Slowakei HZDS" von Vladimir Meciar. Am 5. und 6. Juni 1992 schritten die Tschechen und Slowaken zu den Wahlurnen. Wie bereits bei den ersten Wahlen von 1990 war die Wahlbeteiligung hoch: 85 Prozent der Wahlberechtigten machten von ihrem Recht Gebrauch - Wahl- und Politikverdrossenheit waren vor zehn Jahren noch Fremdwörter.

Sieger im tschechischen Landesteil wurde wie erwartet Vaclav Klaus und seine ODS mit 30 Prozent. In der Slowakei siegte ebenfalls wie erwartet mit 37 Prozent die HZDS von Vladimir Meciar. Im damals noch existierenden föderativen Parlament, das aus zwei Kammern bestand, stellten ODS und HZDS die weitaus meisten Abgeordneten. Damit waren eigentlich die Weichen für die Zukunft des Landes gestellt, denn eine gemeinsame Regierung der beiden Parteien und ihrer Führer war unvorstellbar.

Zehn Tage nach den Wahlen hatten Vertreter der beiden Siegerparteien beschlossen, in die neue Föderative Regierung nicht ihre besten Männer zu schicken, da diese sowieso nur die Aufgabe einer "Regierung der nationalen Teilung" zu erfüllen habe. Vaclav Klaus verzichtete auf das Amt des tschechoslowakischen Ministerpräsidenten und wurde tschechischer Premier, auch Vladimir Meciar bevorzugte den Posten des slowakischen Regierungschefs. Damit war klar, dass die letzten Stunden der Tschechoslowakei geschlagen hatten.

Im Juli 1992 erreichte das politische Drama über Sein oder Nichtsein der Tschechoslowakei seinen ersten Höhepunkt: der einzige Kandidat bei der Wahl zum tschechoslowakischen Präsidenten, Vaclav Havel, wurde von den beiden Kammern des Föderativen Parlaments nicht gewählt. (...)

Zwei Tage nach Havels Rücktritt (20.7.92) verabschiedeten die tschechische ODS und die slowakische HZDS ein Abkommen über die Teilung des Landes, im August einigte man sich auf ein Harmonogramm der Teilung, im Oktober bestätigte die tschechoslowakische Regierung das bevorstehende Ende der Tschechoslowakei zum 31. Dezember 1992.

Und dann galt es eigentlich nur noch, Fragen der Teilung zu regeln - wer soll was bekommen, wie werden Schulden und Goldreserven geteilt? Wie teilt man eine Armee, Post oder den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und das Fernsehen? Wer darf oder will die alte Fahne behalten? Wohl nur bei der Frage der Staatshymne gab es keinerlei Probleme: die tschechoslowakische Hymne hatte aus einem tschechischen und einem slowakischen Teil bestanden - nun wandelte jeder seinen Teil zur neuen Staatshymne um.

Am 1. Januar 1993 war es soweit: zwei neue Staaten entstanden: die Tschechische Republik und die Slowakische Republik. Auch wenn damit längst noch nicht alle Fragen der Teilung geklärt waren, eins haben Tschechen und Slowaken vor zehn Jahren geschafft: eine friedliche Trennung, ohne jegliche Gewaltanwendung. (...)

Das Jahr 1992 brachte einen weiteren schweren Verlust für die Tschechoslowakei: Im September 1992 wurde Alexander Dubcek bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt. Am 7. November erlag das Symbol des Prager Frühlings seinen Verletzungen. Bis heute kursieren verschiedenste Versionen und Gerüchte über den Unfall: war es ein gewöhnlicher Autounfall oder ein politischer Mord? (ykk)