1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Glaube

Von der Kraft des Gebetes

17. Juli 2020

Beten ist paradox. Man kann nicht „beweisen“, dass Gott hilft. Aber manchmal zeigt sich ganz unerwartet: Beten macht Sinn und gibt Kraft, Barrieren zu überwinden.

https://p.dw.com/p/3fFjD
Junge Hände halten alte Hände
Bild: picture-alliance/Zoonar

„Bittet, so wird Euch gegeben“ sagt Jesus und lässt dabei offen, was gegeben wird. Klar, dass Gott sich zu nichts zwingen lässt. Wenn wir Gott um Hilfe und Unterstützung bitten, dann doch in Situationen, wo die Not groß ist. Aber was „nützt“ ein Gebet, wenn ich nicht unbedingt mit dem Erhofften rechnen kann? „Wenn das Beten sich lohnen tät - was meinst Du, was ich dann beten tät.“ Die Kölner Rockgruppe BAP hat die Zweifel am Sinn eines Gebets auf den Punkt gebracht.

Beten ist paradox. Wer betet, wendet sich an Gott. Wer weiß, ob man dabei nicht einem Phantom hinterher jagt? Gut, wenn man wenigstens die Worte nicht selbst finden muss, die Gottes Ohr erreichen sollen. Der Beter kann zurückgreifen auf Worte, die Menschen seit Jahrtausenden Zuflucht gewähren.  Ob Zweifel, ob Klage, Schmerzensschrei oder Lob und Dank: In jeder Lebenssituation können wir auf biblische Gebete zurückgreifen und uns darin wieder entdecken. Oft wird es das Vaterunser sein.

Manchmal werden dabei Energien freigesetzt, die gültige Grenzen wie selbstverständlich überwinden: Grenzen des Glaubens, Grenzen zwischen Menschen, sogar die Grenze zur Ewigkeit.

„Mein Vater stirbt! Bitte helfen Sie uns!“ Solche Notrufe sind auch für die Berliner Polizei nicht alltäglich. Der Anrufer sprach nur gebrochen Deutsch und war außer sich. Man konnte ihn kaum verstehen. Kostbare Zeit verstrich, bis die Wohnanschrift der Familie ermittelt werden und ein Funkwagen auf den Weg geschickt werden konnte. Als die drei Streifenbeamten die Wohnung betraten, bot sich ein Schreckensbild: Der Sterbende lag auf dem Sofa, die arabisch-muslimische Familie stand hilflos und in Schockstarre daneben. Der Vater hatte schon lange Herzprobleme, soviel konnten die Polizisten verstehen. Noch waren Feuerwehr und Notarzt mit der entsprechenden medizinischen Ausrüstung unterwegs.  Die Verantwortung lag jetzt allein bei ihnen.

Als Ersten mühen sie sich, den leblosen Mann vorsichtig auf den Fußboden umzubetten. Die Familie verlässt derweil den Raum und beginnt im Flur laut zu beten und zu klagen. Im Wohnzimmer beginnt ein Beamter mit der Reanimation. So, wie er es auf dem Lehrgang kurz zuvor gelernt hatte: Am besten gelingt eine Herzdruckmassage, wenn sie einem bestimmten Rhythmus folgt. „Staying alive“ von den Bee Gees zum Beispiel passt genau. Also: „Life goin´ nowhere, somebody help me, Staying alive…

Der zweite Beamte nimmt Kontakt auf zu Feuerwehr und Notarzt, die immer noch auf dem Weg sind.  Wenn sie eintreffen, wird er sie sofort einweisen können in die Situation.

Die dritte Beamtin, eine Berufsanfängerin, hat die Aufgabe, sich um die arabische Familie zu kümmern. Das ist schwierig, weil nur der älteste Sohn etwas Deutsch spricht. Außerdem muss sie sicherstellen, dass die Reanimation nicht gestört wird. Aber es ist gar nicht nötig, die Familie darauf hinzuweisen. Sie alle knien auf dem Boden und beten laut auf

Arabisch. Auch wenn sie kein Wort versteht, kann die Beamtin mitfühlen: Kummer und Klage brauchen keine Übersetzung.

Auf einmal weiß sie, wo jetzt ihr Platz ist: Nicht an der Tür zum Wohnzimmer, sondern im Kreis der Familie. Sie kniet sich neben die Mutter und beginnt ihrerseits zu beten. Gemeinsam, auf Deutsch und Arabisch wird zu Gott gefleht, er möge alles zum Guten wenden. Halbbewusst drängt das Vaterunser über ihre Lippen, ein Relikt ihres katholischen Elternhauses. Als die arabische Mutter nach ihrer Hand greift, sie drückt und gar nicht mehr loslassen will, bekommt dieses Gebet auf einmal einen neuen Klang. Wenn Gott unser Vater ist, dann sind alle Menschen Gottes Kinder, ob Muslim, Christ oder nicht religiös. Wir alle sind angewiesen auf Gemeinschaft und Hoffnung!

Als sich die Tür zum Wohnzimmer öffnet, schauen sie hoch. Der Beamte nickt. Der Vater lebt und ist wieder bei Bewusstsein. Gott sei Dank.

Ja, es stimmt: Ein Gebet ist paradox. Aber nicht ohne Sinn.