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Glaube

Vom Wahrnehmen

8. Juni 2021

Warum eine achtsame Haltung im Alltag nicht immer einfach ist, es trotzdem die Hoffnung auf Tage gibt, die sich nach Himmel anfühlen, und es eine gute Idee ist, sich am Ende eines Tages ein paar Fragen zu stellen.

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Dürre auf Sizilien
Bild: picture-alliance / dpa

Ich mag, wenn die Sonne mich schon beim Aufwachen wärmt. Ich mag, wenn der Staub nicht nur Staub ist, sondern im hellen Licht herumtanzt. Ich mag, wenn ich wahrnehme, wie schön das Muster der Pflastersteine ist. Ich mag, wenn ich mich abends noch daran erinnern kann, wer mir zugelächelt hat, wenn ich noch weiß, worüber ich laut gelacht habe, wenn ich Zeit hatte, dazusitzen und alles um mich herum zu beobachten.

Mein Gehirn ist sicher ziemlich gut darin, mir die Welt ungefähr so zu zeigen, wie sie ist. Alles was ich mit meinen Sinnen wahrnehme, verarbeitet eine recht große Summe an Nervenzellen. Die Eindrücke der Welt, das, was mir meine Umgebung zeigt, ordnet mein Gehirn fleißig zu. Trotzdem scheint es mir oft, als würde die Welt an mir vorbeiziehen. Habe ich in diesem Frühling wieder den ersten Grashalm und die ersten Blätter verpasst? Gesehen habe ich sie doch erst, als sie schon zu Tausenden da waren. Warum habe ich nur Augen für das Ergebnis und nicht für den Prozess?

Und blicke ich auf diese erste Jahreshälfte zurück: Es ist Mai, aber endete der lange Winter nicht erst gestern? Wie viel Schönes, wie viel Gutes habe ich nicht gesehen? Lag nicht auf allem der Schatten der nicht aufhören zu wollenden schlechten Nachrichten?

Ich versuche mich immer wieder darin, bewusst wahrzunehmen und bewusst zu sehen. Mir gelingt das besonders in den Morgen- und in den Abendstunden. Am Morgen, wenn ich noch nicht die Reize des Tages verarbeiten muss, sondern alles gerade erst beginnt. Ich beim Joggen oder Spazieren meine Umwelt fast für mich habe. Hinzuschauen ist für mich eine Form der Begegnung mit Gott, eine Form des Gebets. Im bewussten Hinschauen am Ende eines Tages gelingt es mir dann, zu sehen, was sich nach dem Himmel auf Erden angefühlt hat. Weil mich etwas – vielleicht eine zufällige Begegnung auf der Straße mit einer Freundin, eine unverhoffte Stunde Sonnenschein, oder das laute Lachen meines Kindes, das sich über die einfachsten Dinge freut – an die Möglichkeit erinnert hat, dass alles gut werden kann. Dass es tausende Möglichkeiten in diesem Leben gibt und ich nicht einmal an alle denken kann. Diese Minuten, die ich mir dafür Zeit nehme zurückzuschauen, schaffen es, dass ich nicht über das Verpassen nachdenke oder mich auf das Negative fixiere, sondern dass ich mir eben diese Frage stellen kann: Was habe ich heute Schönes wahrgenommen? War zwischen dem Grau nicht auch eine Menge Grün und zwischen den Pflastersteinen wuchsen Gräser?

Ich möchte die guten Nachrichten hören und nicht nur die schlechten. Deshalb sind Tage, an denen mich schon die Sonne beim Aufwachen wärmt, meine Wahrnehmungsschule: Dafür, zu sehen, dass Veränderung möglich ist. Dass nach einem langen Winter ein warmer Sommer wartet. Ich will nicht nur daran denken, dass das alles einmal aufhören könnte, sondern daran denken, dass ich mindestens heute noch Zeit habe. Und es die Chance auf Ewigkeit gibt. Dass ich versuchen kann, im Streit schon den Wunsch nach Versöhnung zu sehen. Ich will sehen, dass jede Wolke in einen Himmel gehört. Genau hinzusehen bedeutet: Mich selbst wachzurütteln. Eine Haltung zu dieser Welt, dieser Wirklichkeit, die mir begegnet, einzunehmen, die Raum für Potenziale eröffnet: Es ist möglich, den Himmel auf Erden zu bringen und ich bin berufen, meinen Teil dazu beizutragen. Das Schöne wahrzunehmen, das um mich herum ist, bedeutet nicht, die Bilder- und schlechte Nachrichtenflut zu vergessen, das Grau und die Risse und Brüche in mir und in der Welt um mich herum auszublenden. Es bedeutet für mich, Bilder in Bewegung zu bringen und zu verstehen: Etwas anderes ist möglich.

Ja, das Schöne, das Gute, die Liebe – Gott kann leicht im Alltag übersehen werden. Ausgeblendet werden. Auch, weil Gott im Letzten Geheimnis bleibt.

Trotzdem oder gerade deshalb hilft es mir, mich am Ende eines Tages zu fragen:

  • Welche gute Nachricht habe ich heute gehört?
  • Wo habe ich heute Gott gesehen?
  • Ich sehe manches eher unscharf und weniges genau. Macht das etwas aus?
  • Kann ich nicht trotzdem öfter das Wunder sehen?

 

Melina Sieker ist derzeit als Referentin in der Schulpastoral im Bereich Schule und Hochschule im Erzbistum Paderborn tätig. Sie hat Katholische Religionslehre, Geschichte und Praktische Philosophie an der Universität Paderborn studiert. Sie lebt mit ihrer Familie in Bielefeld.