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"Vielen ist es lieber, nicht mehr zu frieren"

Tobias Oelmaier13. Januar 2014

Alle Welt hat Angst um das Eis in der Arktis. So manchem Anwohner aber kommt der Klimawandel ganz gelegen. Der Autor und Journalist Klaus Scherer hat am Polarkreis solche Profiteure der Erderwärmung getroffen.

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Journalist und Autor Klaus Scherer (Foto: dpa)
Bild: NDR/Hansen/dpa

DW: Herr Scherer, was waren die beeindruckendsten Momente auf Ihrer Reise?

Klaus Scherer: Die Weite in dieser Region, die unberührte und unverdorbene, wenn auch gefährdete Natur. Ob nun im Winter in Grönland oder in den Sommermonaten, als wir in Alaska ankamen - in kleinen Buschmaschinen über diese Landschaften zu fliegen, das fasziniert mich immer wieder. Und dass da Leute überleben können, indem sie sich an diese unwirtlichen Bedingungen anpassen und mit der Natur leben.

Sieht man denn, wie stark die Natur schon in Gefahr geraten ist?

Das ist nicht unmittelbar zu sehen. Nur, wenn man sich von den Einheimischen schildern lässt, was hier sonst zu sehen ist oder zu sehen war. An der Küste Grönlands zum Beispiel sieht man das Inlandeis mit seinen Gletschern und Gletscherzungen. Nun sagen einem die Einheimischen: In den letzten Jahren war da viel mehr. In wissenschaftlichen Studien lesen wir, dass in den letzten 30 Jahren sogar 40 Prozent des Eises in der Polarregion verloren gegangen sind. Im Sommer geht es weiter zurück, es kommt später im Jahr wieder - aber sehr viel weniger als früher. Das hat Folgen für Jagdgesellschaften und auch für die Eisbären: Ihnen fehlt die Zeit, um zu jagen.

Wie gehen die Menschen in der Arktisregion mit dieser veränderten Wirklichkeit um?

Wir haben schon vor Jahren Leute getroffen, die sagten: "Wir müssen uns anpassen. Wir haben immer geklagt, dass wir nicht fischen konnten, weil uns die treibenden Eisberge unsere Fangleinen zerrissen haben. Jetzt gibt es weniger Eisberge, dafür mehr Fisch, mehr Fischarten, die im wärmeren Wasser aus dem Süden nach Island oder nach Grönland kommen." Warum also nicht einen kleinen Fischereibetrieb in diesem Dorf eröffnen, der denjenigen wieder eine Perspektive gibt, die ansonsten abgewandert wären?

Überwiegen also die Pragmatiker? Gibt es überhaupt keinen organisierten Protest gegen die Klimazerstörer, gegen die Politik?

Natürlich freuen sich nicht alle, dass Grönland grün würde oder wird. Sie finden alles: Sie finden Enttäuschung, in Alaska, Island und Grönland, auch organisierten Protest, wenn es darum geht, den Andrang der Ölindustrie zu bremsen. In Island sagen viele, dass viele Touristen wegen der Wildheit der Natur kämen. Da stören Bohrtürme, selbst wenn sie wirtschaftlich Gewinn bringen. Sie verlören anderswo, wenn die Reisenden ausblieben. Aber in Russland beispielsweise hat man eher den Eindruck, dass sich die ganze Regierung wie ein Konzern aufführt und die Arktis lieber heute als morgen ausbeuten würde. Da locken Verkehrswege und vor allem riesige Öl- und Gasvorkommen.

Sie haben mit Einheimischen in verschiedenen Ländern gesprochen. Haben Sie den Eindruck, dass die Menschen am Polarkreis naturverbundener sind als wir in gemäßigten Breiten? Oder ist das Arktis-Romantik?

Nein, das sind sie schon. Sie merken das in abgelegenen Orten. In Alaska war zum Fang der Kleinwale immer eine enge Zusammenarbeit nötig. Das kann keiner alleine. Da musste das ganze Dorf mit Paddel und Kanu mithelfen. Sonst hätte man nicht überlebt. Insofern hat man ein stärkeres Gemeinschaftgefühl und eine größere Nähe zur Natur, weil nur sie das Überleben garantiert. Und wenn man mit der Natur leben muss, ist man natürlich auch respektvoller ihr gegenüber.

Gleichwohl beobachtet man in Grönland, wenn der Frisör aus Island mal eben rüberkommt, um den Dörflern die Haare zu schneiden, dass die Kids mit ihren Smartphones kommen und sagen: "Ich hätte gerne die Ronaldo-Frisur, die Sie hier sehen." Da zieht über Globalisierung und Internet der Süden nach Norden.

Begrüßen es die Menschen dort, dass die unwirtlichen Temperaturen durch den Klimawandel gemäßigter werden?

Ich glaube, der Wandel ist nicht das Problem. Das Problem ist, wenn der Wandel so schnell geht, dass er eine Generation überfordert. Wenn Sie Ihr Leben lang erfolgreicher Robbenjäger waren, sieben Sorten Schnee auseinanderhalten und Spuren lesen konnten und plötzlich zählt nur noch, ob Sie lesen oder schreiben können, und Sie ein arbeitsloser Analphabet sind, dann geht das zu schnell.

Dass es sich verändert hat, auch zum Nutzen von Einheimischen, gibt es aber auch. Wir haben vor Jahren von Alten am Polarkreis gehört, dass sie froh waren, nicht mehr ständig als Nomaden unterwegs sein zu müssen sondern in einer Hütte wohnen zu können. Vielen ist es lieber, nicht mehr zu frieren, auch wenn sie einiges von ihrer Tradition oder Kultur aufgeben mussten.

Die Fragen stellte Tobias Oelmaier.

Klaus Scherer ist Fernsehjournalist und Buchautor. Über seine Reisen entlang des Polarkreises hat der eine TV-Dokumentation gedreht und ein Buch geschrieben: "Am Ende der Eiszeit. Die Arktis im Wandel", erschienen im Piper Verlag, München 2013.