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Völkermord-Klage: Deutschland stellt sich dem IGH

8. April 2024

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag prüft einen schweren Vorwurf Nicaraguas: Deutschland leiste durch seine Unterstützung Israels "Beihilfe zum Völkermord" an den Palästinensern im Gazastreifen.

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Prüfung Israels Besatzungspolitik am Internationalen Gerichtshof in Den Haag
Eine Anhörung vor dem IGH (Archiv)Bild: Robin van Lonkhuijsen/ANP/AFP/Getty Images

Am 1. März erhob Nicaragua beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag Klage gegen Deutschland. In dieser wird Deutschland unter anderem vorgeworfen, dass es aufgrund seiner unermüdlichen Unterstützung Israels, einschließlich Waffenlieferungen, "seiner Verpflichtung, den Völkermord am palästinensischen Volk zu verhindern, nicht nachgekommen ist". Somit habe Deutschland unter Verletzung der Völkermord-Konvention "zur Begehung von Völkermord beigetragen". 

Das Gericht hat für den 8. und 9. April zwei Verhandlungstage angesetzt, wobei Nicaragua und Deutschland jeweils ein Tag zum mündlichen Vortrag von Argumenten zur Verfügung steht. Eine Entscheidung könnte innerhalb weniger Wochen fallen.    

"Wir schätzen den IGH und werden selbstverständlich an dem Verfahren teilnehmen und uns verteidigen", so Christian Wagner, Sprecher des Auswärtigen Amtes, nach Bekanntwerden der Klage Nicaraguas vor Pressevertretern. "Aber wir wollen ganz klar sagen, dass wir diesen Vorwurf, den Nicaragua gegen uns erhebt, natürlich zurückweisen."   

Was ist die UN-Völkermord-Konvention?

Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, kurz Völkermord-Konvention, ist eines von vielen völkerrechtlichen Instrumenten, die in Folge des Holocaust geschaffen wurden.   

Der Vertrag wurde 1948 von den damals neu gegründeten Vereinten Nationen angenommen und zielt darauf ab, das Mantra “Nie wieder” in die Tat umzusetzen. Dieser Leitspruch ergab sich aus der systematischen Vernichtung sechs Millionen europäischer Jüdinnen und Juden sowie Millionen weiterer Menschen durch Hitler-Deutschland während des Holocaust. Er steht als Versprechen, solche Gräueltaten in Zukunft nie wieder hinzunehmen. Seit dem 7. Oktober 2023 - dem Tag des Hamas-Angriffs auf Israel - ist er in der Abwandlung "Nie wieder ist jetzt" in Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft gängig. Die Hamas wird von Israel, den USA, den EU-Staaten und etlichen anderen Ländern als Terrororganisation eingestuft. 

Das Gebäude des Internationalen Gerichtshofs im niederländischen Den Haag
Das Gebäude des Internationalen Gerichtshofs im niederländischen Den HaagBild: Patrick Post/AP Photo/picture alliance

Durch die Festlegung eines rechtlichen Rahmens sollte die Konvention jeden weiteren Völkermord verhindern. Dennoch wurde in den vergangenen Jahrzehnten weltweit eine Reihe schwerwiegender Kriegsverbrechen begangen. Deutschland und Israel sind zwei der mehr als 150 Länder, die die Konvention unterzeichnet haben. Das zentralamerikanische Nicaragua gehört ebenfalls dazu. Alle Unterzeichner sind rechtlich verpflichtet, die Bestimmungen der Konvention einzuhalten, und haben das Recht, einen anderen Staat förmlich anzuklagen, wenn sie glauben, dass dieser gegen die Konvention verstoßen haben könnte.  

Und genau das hat Nicaragua Anfang März getan. In dem Verfahren wird das Gericht aufgefordert, "vorläufige Maßnahmen" gegen Deutschland zu ergreifen. Diese könnten eine Aussetzung der Unterstützung Israels verlangen, "insbesondere der militärischen Hilfe, einschließlich der militärischen Ausrüstung, soweit diese Hilfe zur Verletzung der Völkermord-Konvention verwendet werden kann".    

Die Definition von "Völkermord"   

Seit dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober, bei dem nach israelischen Angaben etwa 1200 Menschen, darunter mindestens 850 Zivilisten, in Israel getötet wurden, bombardiert und belagert die israelische Armee den Gazastreifen. Nach Darstellung der von der Hamas geleiteten Gesundheitsbehörde soll die Zahl der Todesopfer in dem Gebiet inzwischen 32.000 überschritten haben, was mehr als anderthalb Prozent der Bevölkerung entspräche.

Die UN und Menschenrechtsorganisationen haben den israelischen Streitkräften wahllose Angriffe auf Zivilisten vorgeworfen. Selbst enge Verbündete Israels wie die Vereinigten Staaten kritisieren die Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung als zu hoch. 

Ob es sich bei Israels Vorgehen um "Völkermord" handelt, ist eine Frage der Rechtsauffassung. In einer Entscheidung vom Januar zu einer Klage Südafrikas gegen Israel stellte der IGH fest, dass "zumindest einige der von Südafrika behaupteten Handlungen und Unterlassungen Israels in Gaza unter die Bestimmungen der Konvention zu fallen scheinen".    

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In einer weiteren Erklärung vom 28. März fügte das Gericht die Aufforderung an Israel hinzu, dem Gericht zu berichten, wie es seinen Verpflichtungen gegenüber dem Völkerrecht nachkomme. Deutschland hat sich deutlich als Verteidiger Israels und dessen Zurückweisung der Vorwürfe positioniert - und bestreitet somit auch eigenes Fehlverhalten.   

Mögliche Auswirkungen des Nicaragua-Falls    

Der Nicaragua-Fall lehnt sich stark an das südafrikanische Verfahren an und könnte ein rechtliches Argument dafür liefern, dass das Urteil vom Januar bestimmte Verpflichtungen von Drittstaaten, wie eben Deutschland, nach sich zieht.    

"Diese Fragen sind in hohem Maße unklar. Der Fall Nicaragua steht jedoch vor ernsthaften Hindernissen", sagt Michael Becker, Assistenzprofessor für internationale Menschenrechts-Rechtsnormen am Trinity College Dublin, der DW.    

Eine Herausforderung für Nicaragua bestehe darin, Israel des Völkermordes zu beschuldigen, ohne dass Israel direkt in das Verfahren involviert sei. Um ein Urteil gegen Deutschland zu erzielen, "wird es für Nicaragua wahrscheinlich wichtig sein, nachzuweisen, dass einige von Deutschlands Verpflichtungen nicht davon abhängen, ob Israel gegen internationales Recht verstoßen hat", so Becker. Dafür reiche schon ein ernsthaftes Risiko für einen solchen Verstoß.

"Das Völkerrecht würde von einer Klärung der Maßnahmen profitieren, die ein Staat ergreifen muss, um diesen Verpflichtungen nachzukommen", findet Becker. "Nicaraguas Ansprüche gegen Deutschland stellen einen konkreten Fall dar, in dem diese Fragen möglicherweise untersucht werden können." 

Grundsätzlich haben alle Unterzeichner der Konvention das gleiche Recht, vor den Gerichtshof zu ziehen. Doch Nicaragua sei "eindeutig eine Diktatur", sagt Sophia Hoffmann, Wissenschaftlerin für Internationale Beziehungen an der Universität Erfurt, der DW. "Anders als Südafrika, das nicht nur eine Demokratie ist, sondern auch dieses unglaublich erfolgreiche positive Narrativ hinter sich hat."

Mit anderen Worten: Südafrika ist auf der Weltbühne glaubwürdiger, da es sein eigenes Apartheidregime abgeschafft und in den 1990er Jahren den Übergang zur Demokratie bewältigt hat. Der jüngste Economist Intelligence Democracy Index stuft Südafrika auf Platz 47 ein - eine "fehlerhafte Demokratie", vergleichbar mit den USA und Israel. Nicaragua liegt in dem Ranking auf Platz 143 in einer Gruppe mit "autoritären" Regimen und nur einen Rang vor Russland.

Seit 2007 ist Daniel Ortega der Präsident Nicaraguas. Seine Sandinisten-Partei FSLN schaffte 2014 durch eine Verfassungsreform die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten ab. 

Nicaraguas Präsident Daniel Ortega sitzt auf einem Stuhl
Regiert Nicaragua autokratisch: Daniel OrtegaBild: Iranian Presidency/ZUMAPRESS/picture alliance

Dennoch "gibt es natürlich auch einen sehr legitimen, wichtigen Rechtsanspruch", sagt Hoffmann. "Die Regeln gelten für alle", fügt sie hinzu. Deutschland verhalte sich "hier in gewisser Weise sehr doppelzüngig, wenn es darum geht, auf der einen Seite das Völkerrecht zu unterstützen, zu schauen, was in der Ukraine vor sich geht, aber in Bezug auf wichtige politische Verbündete ein Auge zuzudrücken".    

Deutschland im Fokus 

Deutschland ist nicht der einzige Verbündete Israels, aber einer seiner wichtigsten. Laut dem Friedensforschungsinstitut SIPRI ist Deutschland nach den USA der zweitgrößte Waffenlieferant Israels im  Zeitraum 2019 bis 2023, mit einem Importanteil von 30 Prozent. Nach dem Angriff vom 7. Oktober 2023 hat die deutsche Regierung grünes Licht für weitere Lieferungen gegeben. "Die Vorstellung, dass deutsche Waffen zur Tötung von vielen, vielen Zivilisten - Tausenden von Zivilisten, Frauen, Kindern - beitragen, ist schrecklich", sagt Hoffmann.    

Vor Einreichung der Klage schickte Nicaragua diplomatische Noten an mehrere westliche Länder, darunter auch Deutschland. Diese Länder unterstützen Israel oder hatten dem UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) die Mittel entzogen, nachdem Israel angab, zwölf UNRWA-Mitarbeiter seien in den Anschlag vom 7. Oktober verwickelt gewesen. Daraufhin entließ das UN-Hilfswerk diese Mitarbeiter. Israel spricht zudem von einer nachhaltigen Verwicklung der UNRWA in Terrorstrukturen der Hamas. Für diese Vorwürfe werden noch stichhaltige Beweise erwartet.    

Soldaten laufen an einem UNRWA-Gebäude in Gaza-Stadt entlang
Israelische Soldaten an einem UNRWA-Gebäude in Gaza-StadtBild: JACK GUEZ/AFP/Getty Images

Diese diplomatische Kampagne zeigte möglicherweise Wirkung: Einige Länder haben angesichts der sich verschlechternden Bedingungen in Gaza die Waffenverkäufe ausgesetzt oder wieder Finanzmittel für humanitäre UN-Hilfe bereitgestellt. Deutschland jedoch blieb bei seiner Linie. Die deutschen Zahlungen an UNRWA wurden erst kürzlich wieder aufgenommen, allerdings ohne direkte Hilfe für den Gazastreifen, da eine Untersuchung der israelischen Vorwürfe andauert.        

Der IGH hat zwar keine Mittel zur Durchsetzung seiner Entscheidung, er kann jedoch den politischen und öffentlichen Druck auf eine Regierung erhöhen. Unabhängig von den konkreten Folgen befindet sich Deutschland in einer Zwickmühle: Seine Nachkriegsidentität wurzelt in der Aufrechterhaltung der universellen Grundsätze des Völkerrechts, die größtenteils vor dem Hintergrund der NS-Verbrechen, also der deutschen Geschichte, geprägt wurden. 

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.