USA: Das Trauma nach der "Homo-Heilung"
28. August 2018Mathew liefen Tränen über das Gesicht. Er hatte seinem Vater gerade etwas gesagt, das noch niemand von ihm wusste. Er hatte bisher immer Angst, es jemandem zu erzählen. Doch an diesem Samstagnachmittag war der Moment gekommen. Der 16-Jährige Mathew hatte sich mit Mitschülern in der High School gestritten. Danach schwänzte er die Schule, aus Angst, sie würden sein Geheimnis irgendwann herausbekommen: Mathew war schwul, fühlte sich mehr zu Männern als zu Frauen hingezogen. Und sein Vater sollte an diesem Tag der erste sein, mit dem er darüber sprach.
Die beiden fuhren gerade mit dem Auto durch den New Yorker Stadtteil Brooklyn. Mathews Vater hielt auf dem Seitenstreifen, um mit seinem Sohn zu reden. "Seine Reaktion war wundervoll", erzählt der heute 30-Jährige Mathew Shurka. "Er sagte mir, dass er mich liebt, egal was passiert." Mathew war erleichtert. Es war genau die Reaktion, auf die er gehofft hatte. Eigentlich stand er seiner Mutter immer näher, dennoch erzählte er sein Geheimnis seinem Vater: "Ich dachte, wenn jemand mich beschützen kann, dann er." Er werde sich darum kümmern, sagte sein Vater. Mathew war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, dass sein Vater ihn in eine Therapie stecken wird, um seine homosexuellen Neigungen loszuwerden.
Stigma und Vorurteile
700.000 Menschen in den USA haben im Laufe ihres Lebens eine solche Therapie gemacht. Das zeigen Schätzungen des Williams Institute. Die Hälfte von ihnen war dabei unter 18 Jahre alt. "Die sogenannte 'Reparativtherapie' zielt darauf ab, die sexuelle Orientierung oder auch die Geschlechtsidentität von LGBT-Personen zu ändern", gibt Christy Mallory eine Definition. Sie hat am Williams Institute in Kalifornien zu den Therapien geforscht.
"Menschen, die solche Therapien anbieten, denken immer noch, dass Homosexualität eine Störung ist, die behandelt werden muss", fügt Mallory hinzu. Doch neben Therapeuten würden auch religiöse Seelsorger solche Therapien anbieten. "Die Kirche ist sicher ein großes Problem", meint auch Mathew Shurka. "Für manche Christen ist es eine Sünde, schwul oder lesbisch zu sein." 57.000 Jugendliche, die im Moment zwischen 13 und 17 Jahren alt sind, werden eine solche religiöse Therapie machen. Das schätzt das Williams Institute. In vielen US-Staaten sind mittlerweile Gesetze in Kraft getreten, die Reparativtherapien gegen Bezahlung verbieten. Religiöse Behandlungen sind allerdings oft kostenlos und damit nicht verboten. Durch die Gesetze konnten dennoch 6.000 Jugendliche einer Therapie entgehen, zeigt die Studie weiter.
Dass so viele Kinder in diesen Therapien landen, liegt vor allem an ihren Eltern. Viele akzeptieren die sexuelle Orientierung ihrer Kinder nicht. Homosexuell zu sein, rufe bei vielen immer noch Stigmen und Vorurteile hervor, erklärt Mathew Shurka. "Ich denke, wir leben in einer Übergangsphase zwischen Millenials und der älteren Bevölkerung." Junge Menschen würden Homosexualität besser akzeptieren als die Generationen vor ihnen. Umso schwieriger, dass Jugendliche vor allem auf ihre Eltern angewiesen sind, wenn sie sich outen: "Wenn das eigene Umfeld die Orientierung akzeptiert, ist es einfacher für Kindern, so zu leben, wie sie sind."
Homosexualität als Trauma
Mathew wuchs auf in einem Vorort von New York, in einem jüdisch-konservativen Elternhaus. "Mein Vater wurde in Israel geboren, seine Eltern kamen allerdings aus dem Iran", erzählt Mathew. In seinem Fall sei es aber nicht die Religion gewesen, die seinen Vater antrieb: "Er sagte: Wenn das psychisch behandelbar ist, dann will ich lieber, dass du heterosexuell wirst." Sein Vater wanderte in die USA ein und wurde dort zu einem Geschäftsmann. "In seiner Welt war man verloren, wenn man kein starker Mann war", sagt Mathew. Sein Vater legte Wert darauf, dass sein Sohn so männlich wie möglich wirkt. "Er erklärte mir, dass mein Leben sehr hart wird, wenn ich offen schwul lebe", erzählt Mathew. Mit dieser Angst im Hinterkopf war auch er bereit, eine Therapie auszuprobieren.
"Alle Menschen sind von Grund auf heterosexuell. Als Schwuler reagiert man nur auf ein Trauma, das man als Kind hatte", so beschreibt Mathew die Argumentation seines Therapeuten. Nur wenige Wochen nachdem er sich bei seinem Vater geoutet hatte, besuchte er seine erste Sitzung. "Ich war sehr nervös und hatte Angst", erinnert sich Mathew. Zusammen mit seinem Vater flog er nach Kalifornien. Dort habe der beste Therapeut auf dem Gebiet Reparativtherapie seine Praxis. Die erste Begegnung lief gut, also kehrte Mathew nach New York zurück und sprach ab sofort regelmäßig mit dem Therapeuten am Telefon.
Seine Behandlung war eine reine Gesprächstherapie. Doch andere Teilnehmer von Reparativbehandlungen berichten von weitaus schlimmeren Praktiken: "Oft wird auch eine sogenannte Aversionstherapie eingesetzt", berichtet Forscherin Christy Mallory. Dabei müssen sich die Patienten zum Beispiel homosexuelle Pornos ansehen und dabei Elektroschocks aushalten. Homosexualität soll so mit einem negativen Gefühl verbunden werden.
Selbstmordgedanken und Zweifel
Mathews Therapeut fand schnell heraus, was ihn angeblich schwul gemacht hat: "Er hat mir diagnostiziert, dass ich zu viele weibliche Vorbilder hatte", erzählt Mathew. Er habe seiner Mutter und seinen zwei Schwestern zu nah gestanden. Außerdem habe er zu viele weibliche Freunde. "Der erste Schritt der Therapie war also, weniger Zeit mit Frauen und mehr Zeit mit Männern zu verbringen." Für mehrere Wochen durfte Mathew nicht mit seiner Mutter sprechen. "Ich fühlte mich schlecht, machte es aber mit, da ich dachte, dass es mir helfen wird." Auch seine Mutter fügte sich den Anweisungen des Therapeuten, nach einigen Wochen wurde sie aber sauer: "Meine Mutter konnte nicht glauben, dass eine Therapie sinnvoll sein kann, die einen Sohn von seiner Mutter trennt."
Einige Gesundheitsorganisationen in den USA machen darauf aufmerksam, wie gefährlich eine Reparativtherapie sein kann. Sie sei schädlich für den Körper und darüber hinaus auch nicht effektiv, sagt zum Beispiel die American Medical Association. Auch Mathew merkte nach einiger Zeit, dass es ihm nicht gut tut, seine Persönlichkeit zu unterdrücken. Er fühlte sich depressiv, nahm fast 30 Kilogramm zu und hatte Selbstmordgedanken: "Ich dachte zwei Jahre lang immer wieder darüber nach, mich umzubringen. Aber ich habe es nie versucht", erzählt Mathew. Darüber sprach er nur mit wenigen Menschen. Auch seinem Therapeuten erzählte er zunächst nicht, wie sehr seine Psyche unter der Behandlung leidet.
Erst fünf Jahre nach seiner ersten Therapiestunde entschied sich Mathew, die Behandlung zu beenden. "Ich habe immer wieder gefragt, ob ich jemanden treffen kann, der erfolgreich seine Orientierung geändert hat", erzählt Mathew. Als sein Therapeut ihm aber niemanden vorstellen konnte, kamen bei Mathew erste Zweifel auf. Mit 21 Jahren und schweren psychischen Problemen beendete er seine Reparativtherapie. "Ich brauchte etwa zwei Jahre, um mich davon zu erholen", erinnert er sich. Er musste zunächst wieder Vertrauen zu Therapeuten aufbauen, um seine Depressionen zu überwinden.
Leben als Aktivist
Heute lebt Mathew in einer kleinen Wohnung in Manhattan und kann so leben, wie er will. Er hat einen festen Freund und ist in den letzten Jahren zum wichtigsten Aktivisten gegen Reparativtherapie in den USA geworden. Mit seiner Organisation "Born Perfect" hilft er Opfern von Umpolungstherapien in den USA. Doch der wichtigste Teil seiner Arbeit ist es, Gesetze gegen die Therapien durchzusetzen. "Wir wollen das Stigma beenden. Menschen sollen endlich verstehen, dass es völlig normal ist, homosexuell zu sein."
Sein Vater hat sich mittlerweile bei ihm entschuldigt. Mathew erzählt: "Er akzeptiert meine Orientierung heute. Aber er hätte es besser gefunden, wäre ich kein Aktivist geworden." Doch Mathew steckt seine ganze Energie in die Arbeit gegen Reparativtherapien: "Es ist schon absurd, dass in den USA die Ehe für alle erlaubt ist, aber solche Therapien immer noch nicht verboten." Er hofft, dass sich in den nächsten Jahren der Blick auf LGBTs ändern wird. Doch vor Mathew Shurka liegt noch eine Menge Arbeit: "Solange manche sogar unsere Existenz verhindern wollen, wird es immer Vorurteile geben."