Urvolk in Thailand trotzt modernem Leben
20. März 2020In der Mani-Siedlung schart sich eine dichte Menschentraube um eine der Bambushütten. Darin liegt der schwer verletzte Stammesvater Kruan. Der alte Mann atmet kaum. Einzig sein Arm bewegt sich ein Stück. "Kruan war mehrere Tage bewusstlos", sagt Yao, einer seiner Söhne, bekümmert. Wie gewohnt brach der betagte Mann vor ein paar Tagen mit seinem Giftpfeilköcher und dem Blasrohr zur Jagd in die Tropenwälder von Manang auf, wo die rund 50-köpfige Mani-Gruppe lebt. Auf die erhoffte Beute an Lemuren, Wildschweinen oder auch nur Wurzeln warteten sie allerdings vergeblich.
Winziges Volk mit großem Zusammenhalt
"Als wir ihn im Wald endlich gefunden haben, lag er regungslos am Boden. Vielleicht ist er ja gestürzt", mutmaßt Yao. "Er ist schon sehr alt." Das Abzählen von Lebensjahren ist für das Urvolk genau so bedeutungslos wie die genaue Zahl der Gruppenmitglieder. Die Mani sind eine der letzten Jäger- und Sammlergesellschaften der Welt. Ein auf 250 Menschen geschätztes Volk, das weit verstreut in Gruppen aus 30 bis 50 Personen in den südthailändischen Provinzen Yala, Narathiwat, Phatthalung, Trang and Satun leben.
Und doch pflegen sie einen engen Zusammenhalt. Scharenweise reisen Ureinwohner aus entlegenen Gebieten an, um dem verletzten Kruan in Manang beizustehen. Aus dem Dickicht des Waldes eilt ein Mani mit einem Holzstoß herbei, um das wärmende Feuer am Lodern zu halten. Kruans Frau verreibt heilende Kräuter zu einer Paste. Trotz Beistand und traditioneller Medizin stirbt der angesehene Mani an einer Hirnblutung. Ein Krankenhausaufenthalt des Alten bei den "Stadtmenschen" wäre für das zurückgezogene Volk nicht in Frage gekommen. "Dort machen sie nur komische Sachen mit uns. Am Schluss wollen sie auch noch viel Geld", winkt Yao ab.
Bedrohung durch fremde Keime
Das Misstrauen gegenüber der Zivilisation wuchs vergangenes Jahr, als eine eingeschleppte Epidemie mehrere Todesopfer forderte. Es geschah zur Jahreswende 2018/19. In einer Mani-Siedlung in der Provinz Patthalung kam ein Kind zur Welt, dem es ganz offensichtlich schlecht ging. "Die Ureinwohner konnten ihr Neugeborenes nicht selber behandeln, weshalb wir es ins städtische Krankenhaus von Patthalung brachten", erinnert sich Narong Songkhai, Assistent des Dorfvorstehers in Lohan, einer Gemeinde in der Nähe des Lagers. "Täglich bevölkerten etliche Mani das städtische Krankenhaus, um dem erkrankten Kind beizustehen."
Doch auch die moderne Medizin fand keine Antwort auf die seltene Leberkrankheit des Neugeborenen. Es verstarb im Krankenbett, was erst der Anfang des Leidenswegs sein soll. Durch die Massenvisite in den modernen Kliniken schleppten die Ureinwohner Krankheitserreger in ihr isoliertes Lager, gegen die sie in der Abgeschiedenheit der Wälder noch gar keine Abwehrkräfte entwickeln konnten. 24 Stammesmitglieder erkrankten an Typhus und Diphterie. Zwei davon starben an den Infektionen. "Die Behandlungskosten stiegen auf bis zu 30.000 Baht (umgerechnet ca. 900 Euro). Wir mussten in den Dörfern Geld sammeln, um die Rechnungen bezahlen zu können", sagt Narong und fügt an, dass sie die Mani deshalb künftig nur noch in Ausnahmefällen in die städtischen Krankenhäuser einweisen. Zu groß sei die Ansteckungsgefahr.
Nomadische Lebensweise schwindet
Zurück bei den Mani in Manang wird der verstorbene Stammesvater Kruan traditionell begraben. Die Angehörigen sitzen andächtig um das ausgehobene Erdloch, während die Ruhestätte mit Palmblättern und farbigen Blumen zugedeckt wird. Bei einem Todesfall ist es Brauch, das Gebiet des Unglücks zu verlassen. "Ich werde ausnahmsweise nicht wegziehen und hierbleiben, weil es mein Vater war", sagt Yao. Einige andere schlagen ihre Palmblatt-Gemächer nur 20 Meter vom Grab entfernt wieder auf.
Die nomadische Kultur weiche immer mehr der Sesshaftigkeit, sagt Kai, der für die Bestattung aus Wang Sai Thung angereist ist. Seine Stimme hat Gewicht unter den Mani. Mit Kontakten in die Thai-Dörfer und den entsprechenden Sprachkenntnissen gilt er als Bindeglied zwischen den Stadt- und den Waldmenschen. Seine Gruppe lebt seit einem Jahr sesshaft in Wang Sai Thung, in der Provinz Satun. Beim Besuch in Kais Siedlung begrüßt er den DW-Reporter in gebügelten Anzugshosen und gelbem Poloshirt, beides Geschenke von Besuchern aus der Zivilisation.
Früher seien sie alle paar Wochen weitergezogen, um die Waldressourcen nicht zu erschöpfen. "Seit uns die Stadtmenschen mit Reis und Geschenken versorgen, ist dies nicht mehr nötig", sagt Kai und greift nach einer wilden Wurzel. "Wir vermengen das Essen der Stadtmenschen mit dieser Knolle, damit wir nicht krank werden von dem Gift." Mit Gift meint er die für die Mani problematischen Zusatz- und Inhaltsstoffe in den Lebensmitteln der Städter.
Zivilisationskrankheiten
Sobald indigene Völker weniger mobil sind und sich zunehmend von Supermarkt-Lebensmitteln ernähren, würden diese Menschen häufiger krank, sagt Marcus Colchester von der NGO Forest Peoples Programme: "Auch Lifestyle-Krankheiten wie Diabetes und Herzkrankheiten nehmen zu, während die falsche Ernährung das Immunsystem schwächt." Als Grund für den Wechsel ihrer Lebensweise sieht Colchester den Rückgang an Natur- und Lebensraum. "Es gibt im Südwesten Thailands nur noch wenige Gebiete mit ausgedehnten Regenwäldern. Sogar die Waldreservate, die von der Regierung geschützt werden sollen, sind stark von Gummi- und Palmölplantagen betroffen."
Mani trotzen der Moderne
"Sie hat sich leider schon etwas verformt", antwortet Kai auf die Frage, ob die Kultur der Mani allmählich schwinde durch die Annäherungsversuche aus der Zivilisation. Umso stärker versuche er, die Lebensweise innerhalb des Lagers zu bewahren. "Ich möchte, dass meine Kinder so wie ich aufwachsen." Ein Mani vor der Nachbarhütte zündet eine selbstgedrehte Zigarette an und hängt sie seinem Sprössling in den Mundwinkel. Dahinter krabbelt ein Kleinkind zum reißenden Bach hinunter. Erst in letzter Sekunde fischt Kai den Kleinen aus dem Wasser.
Das Benehmen eines Kindes formen zu wollen, mache es krank, glauben die Ureinwohner. "Ob jung oder alt - in unserer Kultur sind alle gleich", beschreibt Kai ihre egalitäre Gesellschaft. Privatbesitz kennen sie genau so wenig wie gewaltsame Konflikte untereinander. Kommt es zum Streit, gehen die Kontrahenten auseinander und schließen sich neuen Gruppen an. Teilen sei das Rezept für ihr Glück jenseits der Oberflächlichkeit der modernen Zivilisation. Ein Leben abseits des Waldes ist für Kai unvorstellbar. "Hier in der Natur ist es friedlich. Die Stadtmenschen sind viel zu gestresst."
"Ein Zurück gibt es nicht"
Mani, die sich in die moderne Gesellschaft eingliedern, gibt es nur sehr wenige. Eine davon ist Gop. An einer viel befahrenen Straße in der Provinz Trang betreibt sie einen kleinen Marktstand. "Als junge Frau habe ich einen Thailänder geheiratet und habe mit ihm zwei Kinder", murmelt Gop etwas scheu hinter ihrer Verkaufstheke. Vom Wald abgenabelt hat sie sich aber auch nach 20 Jahren nicht. "Alle paar Tage gehe ich in den Dschungel, um Kräuter und Gehölz für meine Kundschaft zu sammeln."
Sie entnehme aber nur das Nötigste aus den Wäldern, betont Gop. Ein Rückkehr in ihr altes Leben wäre ihr nicht mehr möglich, sagt die Heilkräuterverkäuferin. "Ich habe verlernt, als Mani in der Wildnis zu überleben." Nach Schätzungen von Anthropologen wird die Lebensweise der Mani, der letzten Jäger- und Sammlergesellschaft Thailands, noch höchstens 15 Jahre bestehen.