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Juristen und Religionsverbände streiten weiter

Wolfgang Dick19. Juli 2012

Die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen stellt nach dem Urteil des Landgerichts Köln eine strafbare Körperverletzung dar. Das empörte Juden und Muslime in Deutschland. Der Streit über das Urteil geht weiter.

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Gerichtshammer Foto: Ronald Wittek (dpa)
Bild: picture-alliance/ dpa

Die Schärfe in der Diskussion hat nur wenig nachgelassen, obwohl die Bundesregierung angekündigt hat, die rituelle Beschneidung von Jungen weiterhin in Deutschland zu ermöglichen. Am Donnerstag (19.07.2012) unterstützte auch eine große Mehrheit der Bundestagsabgeordneten eine entsprechende Entschließung von Union, FDP und SPD. Bis zum Herbst soll ein entsprechender Gesetzesentwurf vorliegen.

Die Aufregung lässt deshalb nicht nach, weil das Urteil über den verhandelten Fall hinaus Auswirkungen hat. Das Landgericht Köln bewertete am 7. Mai 2012 die religiöse Beschneidung eines Jungen, bei der es anschließend zu Komplikationen gekommen war, als "strafbare Körperverletzung". Viele Ärzte fühlen sich seitdem durch das Urteil verunsichert und hatten erklärt, vorerst keine Beschneidungen mehr vorzunehmen. Verärgert sind weiterhin viele jüdische und muslimische Familien, die jetzt nicht wissen, wie sie mit ihrer religiösen Tradition umgehen sollen. Vertreter des Zentralrates der Juden, der Konferenz Europäischer Rabbiner und des Koordinationsrates der Muslime sind sich einig und sprechen von "Respektlosigkeit und Intoleranz". Einige Rabbiner verglichen die bundesdeutsche Justiz sogar mit den Richtern des Nazi-Regimes.

Tabubruch und Gedankenlosigkeit

Ein türkischer Junge wartet auf seine Bescheidung Foto: Ibrahim Usta
Ein türkischer Junge wartet auf seine BeschneidungBild: AP

Nach Einschätzung von namhaften Historikern und Kirchenrechtlern hat das Urteil des Kölner Landgerichts eine unendliche Gedankenlosigkeit offenbart. Nach unfassbaren Verbrechen wie dem Mord an sechs Millionen Juden durch Deutsche hätten die Richter in Köln einen empfindlichen Tabubereich und die heikle Frage berührt, wie man heute mit Juden und Andersgläubigen umgehen darf, Jüdischen Mitbürgern jedenfalls Vorschriften zu machen, wie sie mit einem identitätsstiftenden Fundament ihres Glauben umzugehen haben, verlange von einem Gericht in Deutschland besondere Sorgfalt. Nach der Mordserie von Neonazis an türkischen Mitbürgern gelte ein besonders sensibles Verhalten ebenso gegenüber Muslimen.

Es habe sich mit dem Urteil auch gezeigt, wie weit sich breite Teile der deutschen Gesellschaft in einem säkularen Staat von dem Thema Religion und Kirche entfernt haben. Unter dem Eindruck, Religion sei etwas mittelalterliches von gestern, hätten wohl auch die Richter in Köln gestanden. Hans Michael Heinig, Leiter des Kirchenrechtlichen Institutes der Evangelischen Kirche, spricht sogar von einem "Triumph antireligiöser Eiferer".

Kölner Urteil bedeutungslos

Die Richter in Köln hätten jedenfalls nicht politisch motiviert oder gar antisemitisch orientiert gehandelt, ist Professor Martin Hochhuth überzeugt. Als einer der führenden Rechtswissenschaftler in Deutschland lehrt er an der Universität Freiburg und hat das Urteil genau studiert. Beim Lesen der Urteilsbegründung erkenne er aber eine "modernistische Religionsferne". Viel schwerer aber wiege, dass das Urteil aus juristischen Gründen völlig falsch abgefasst sei. "Die Richter haben die Verfassung nicht ordentlich gelesen". Das deutsche Grundgesetz schütze den Glauben. Was der für Juden und Muslime bedeute, sei nicht wirklich erfasst worden. Dazu aber sei das Gericht verpflichtet gewesen.

Nach Ansicht von Martin Hochhuth wurden im Kölner Urteil die geschützte Religionsfreiheit und das Elternrecht nicht richtig beachtet. "Die Religionsfreiheit ist in Deutschland eines der wenigen Rechte, die überhaupt nicht eingeschränkt werden können. Der Schutz rangiert ganz weit oben".

Martin Hochhuth, Staatsrechtler an der Universität Freiburg Foto: Rolf Haid
Martin Hochhuth, Staatsrechtler an der Universität FreiburgBild: Rolf Haid

Hochhuth beruhigt daher: "Ein solches Urteil wird sich in Deutschland definitiv nicht wiederholen". Außerdem sei die Stellung eines Landgerichts nicht so hoch. Tatsächlich liegen etliche Instanzen darüber und die Kölner Einzelfallentscheidung ist für andere Gerichte nicht bindend. Martin Hochhuth hat daher auch keine Bedenken, wenn Eltern ihre Kinder aus religiösen Gründen weiter beschneiden lassen. "Tun Sie das ruhig. Selbst, wenn ein deutsches Gericht nochmals eine Körperverletzung bestrafen will, wird Sie spätestens das Bundesverfassungsgericht oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte freisprechen!" Es gibt aber auch Stimmen, die sich da nicht so sicher sind.

Kinderrechte beachten

Befürworter der Haltung der Kölner Richter argumentieren mit dem bisher unterbewerteten Schutz der Kinderrechte. Um diesen Schutz sei das Landgericht im Urteil bemüht gewesen. So kritisieren Kinderschutzverbände, dass bei dem aktuellen Streit zu sehr auf die Machtinteressen der Lobby von Religionsgemeinschaften geachtet werde. Das sei völlig unverständlich, denn Deutschland habe im Jahr 1990 die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet. Nach Artikel 24 dieser Konvention besteht die Verpflichtung, "überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen".

Memet Kılıç, Abgeordneter der Grünen Foto: DW-Archiv
Memet Kılıç, Abgeordneter der GrünenBild: Memet Kilic

Die Selbstbestimmung der Kinder ist auch Juden und Muslimen wichtig. So geht der Zwiespalt durch die Religionsgemeinschaften. Memet Kılıç, 45, ist so in einer ganz besonderen Situation. Als gläubiger Muslim und beschnittener Mann kam er vor 21 Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Heute sitzt er als Abgeordneter und integrationspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Als Mitglied des Innenausschusses muss er sich darum kümmern, die Wogen zu glätten. "Ich verstehe die Welt nicht mehr. Warum hacken alle auf dem Urteil herum?" Das Urteil verstehe er als Denkanstoss, der in einer modernen säkularen Gesellschaft möglich sein müsse. Ganz persönlich hat Kılıç bereits die Konsequenzen gezogen. Wäre das Urteil nicht vor kurzem gefällt worden, hätte er im Sommer seine Söhne wahrscheinlich beschneiden lassen. "Zusammen mit meiner Frau habe ich jetzt entschieden, noch zu warten und unseren Kindern die Freiheit zu lassen, sich vielleicht auch für eine ganz andere Religion zu entscheiden". Nach deutschen Gesetzen erhalten Kinder mit 14 Jahren Religionsmündigkeit.