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Was wurde gelernt?

Joanna Impey6. August 2012

Im August 2011 erlebten britische Städte die schlimmsten Unruhen seit Jahrzehnten. DW sprach mit Betroffenen: einem Lokalpolitiker, einem Geschäftsmann und einer Jugendarbeiterin.

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Maskierter Jugendlicher zwischen brennenden Mülltonnen (Foto: dapd)
Bild: dapd

Die Unruhen begannen in Tottenham, einem nördlichen Stadtteil von London, am 6. August 2011. Kurz zuvor war der dunkelhäutige Einwohner Mark Duggan von der Polizei erschossen worden. Eine zunächst friedlich verlaufende Demonstration gegen die Erschießung des 29-Jährigen wurde gewalttätig, nachdem Polizeikräfte damit begannen, die Demonstranten zu vertreiben. Noch in dieser Nacht kam es zu heftigen Ausschreitungen in dem Stadtteil. Begleitet von Brandstiftung und Plünderungen griffen sie in den darauffolgenden Tagen auf andere Londoner Stadtteile sowie weitere Städte in ganz Großbritannien über.

Der britische Premierminister David Cameron brach seine Ferien in Italien ab, um dem Chaos Einhalt zu gebieten. Sämtliche Polizeikräfte wurden aus dem Urlaub zurückgeholt, Tausende wurden in den Krisengebieten eingesetzt, um die Situation unter Kontrolle zu bringen.

Ein Jahr danach befindet sich das Land im olympischen Rausch, während der Wirtschaft schwere Zeiten bevorstehen. Wir untersuchen die möglichen Auslöser der Gewaltorgie sowie ihre Auswirkungen auf einzelne Gemeinden und fragen uns, ob sich das Gleiche wiederholen könnte.

Britischer Vizepremierminister Nick Clegg und Abgeordneter Davis Lammy im Gespräch mit Bürgern auf der Straße (Foto: picture alliance/dpa)
David Lammy sagt, die Unruhen hätten die Menschen stärker zusammengeschweißtBild: picture alliance / dpa

"Die Kluft zwischen Reich und Arm wird in Großbritannien immer größer"

David Lammy, 40, ein Vertreter der Labour Party und seit 2000 Parlamentsabgeordneter für Tottenham, wurde in dem Londoner Stadtteil geboren - seine Eltern stammen aus Guyana.

DW: Hat sich seit dem vergangenen Jahr in Tottenham etwas verändert? Hat man aus den Ereignissen wirklich etwas gelernt?

David Lammy: Das hier ist eine recht belastbare Gesellschaft. Ganze 220 Sprachen werden hier gesprochen; man hat gelernt zusammenzuhalten. Wir haben auch schon vorher schwere Zeiten durchgemacht. Viele Familien haben gelernt, wie man unter schwierigen Umständen überleben kann - sie kommen aus Ländern, in denen es hart zugeht. Die Regierung hat dem Stadtviertel über den Bürgermeister Gelder für den Wiederaufbau zur Verfügung gestellt; der Fußballclub baut das Stadion wieder auf, Spannungen und Probleme mit der Polizei werden angegangen.

Aber gleichzeitig ist seit den Unruhen in Tottenham die Arbeitslosigkeit nicht etwa gesunken, sondern gestiegen. Die harte Sparpolitik tut dieses Jahr noch mehr weh als letztes Jahr. Programme für Jugendliche sind zusammengestrichen worden - und das Ergebnis macht sich bemerkbar. Wir sind also stark, wir halten zusammen, aus der ganzen Welt bekommen wir Aufmerksamkeit und Unterstützung - aber es bleibt noch viel zu tun, und all dies angesichts einer unsicheren Wirtschaftslage, geprägt von einer Rezession mit zwei Talsohlen.

Im vergangenen Jahr haben Sie ein Buch mit dem Titel "Aus der Asche: Großbritannien nach den Unruhen" veröffentlicht. Was, glauben Sie, hat die Unruhen damals verursacht?

Meiner Meinung nach gibt es immer einen bestimmten Auslöser, der zum Ausbruch von Unruhen führt - das hat meistens etwas mit dem Verhältnis zu Polizei oder Staat zu tun, hinzu kommt eine Tat, die als ein Akt von Ungerechtigkeit wahrgenommen wird, häufig geht es um einen Todesfall, egal ob in Paris, Los Angeles oder London. Aber mal abgesehen davon, kamen in Großbritannien im vergangenen August auch noch zwei spezifische Umstände hinzu: Erstens hat sich hier eine Kultur breitgemacht, in der ein jeder seine Rechte einfordert, aber für nichts Verantwortung übernehmen will. Und deshalb bin ich davon überzeugt, dass die Leute für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden müssen.

Zweitens hat sich hier ein harter Liberalismus durchgesetzt, nach dessen Vorgaben man so viel Geld scheffeln kann, wie man will, ohne die Konsequenzen zu tragen. Und ich fürchte, das hat katastrophale Konsequenzen nach sich gezogen: Die soziale Schere in Großbritannien geht immer weiter auseinander. In einigen der hiesigen Wohngebiete, wo früher viele Arbeiter lebten, leben jetzt Arbeitslose.

Glauben Sie, solche Unruhen könnten sich wiederholen?

Ich denke, in Tottenham ist das eher unwahrscheinlich, weil die Gemeinschaft hier eng zusammengerückt ist, und alle über die Übeltäter sehr verärgert sind. Nichtsdestotrotz ist die Lage nicht ganz stabil, und ich denke in der Tat, dass jene Umstände, die den Unruhen zu Grunde lagen, in Großbritannien weiterhin vorherrschend sind.

Feuerwehrleute mit Wasserspritzen vor ausgebranntem Haus (Foto: dapd)
Existenzen wurden ruiniert - und mühsam wieder aufgebautBild: dapd

"Erst wenn man etwas verloren hat, erkennt man seinen Wert"

Trevor Reeves unterhält das "House of Reeves", ein Möbelgeschäft in Croydon, einem südlichen Stadtteil von London. Das Gebäude, das 1867 errichtet wurde, überstand sogar den Luftangriff der Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Am 8. August 2011 wurde das Gebäude mit Kultstatus jedoch durch Brandstiftung zerstört. Das brennende Haus wurde zu einem Symbol der Unruhen. Trevor Reeves ist der Ururenkel des Geschäftsgründers Edwin Reeves.

DW: Wie haben Sie erfahren, dass das Geschäft angegriffen worden war?

Trevor Reeves: Ich stand draußen und sah es brennen. Von einem Nachbarn hatte ich erfahren, dass in der Nähe des Ladens eine Menge los war, und dass ich besser mal hingehen sollte, um nachzusehen. Also habe ich das getan. Ich fuhr zum Geschäft, parkte dahinter, und als ich aus dem Auto ausgestiegen war, liefen da so einige Leute herum; einige Minuten später traten Rauch und Flammen aus - das war's.

Wie haben die Leute aus der Nachbarschaft reagiert, als sie hörten, dass "Reeves Corner" abgebrannt war?

Es war einfach umwerfend. Diese Gefühlsausbrüche wird keiner von uns jemals vergessen. Ich glaube, niemand hätte es für möglich gehalten, dass solche Gefühle überhaupt vorhanden waren. Das erinnerte uns an das alte Sprichwort: "Erst wenn du etwas verloren hast, weißt du, was du eigentlich gehabt hast." Und so viele Leute strömten zum Laden, nur um dort zu stehen und zuzusehen…

Wie ist die Lage jetzt, ein Jahr später? Haben Sie eine klarere Vorstellung davon, wie es nun mit dem Geschäft weitergehen soll?

Wir haben alles wieder aufgebaut. Jetzt arbeiten wir wieder als lebensfähiges Unternehmen. Das Schwierige ist, dass wir in Zeiten einer Sparpolitik leben. Wir kämpfen immer noch um Marktanteile in dieser Gegend. Unser Unternehmen ist jetzt viel kleiner, als es vorher war. Wir führen nicht mehr so viele Marken.

Machen Sie sich Sorgen, dass die Unruhen noch mal ausbrechen könnten?

Ich bin mir sicher, dass es hier viele kriminelle Gestalten gibt, subversive Kräfte, Leute, die unbedingt Unruhe und Zerstörung und Unglück anrichten müssen, und ich bin mir auch sicher, dass sie bald wieder solcherlei Missetaten planen werden. Auf der anderen Seite sind die Behörden sich jetzt ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft stärker bewußt, und sie werden eher zuschlagen, sobald sich etwas regt. Zumindest hoffe ich das.

Silhouetten von Menschen und Autos vor nächtlichem Feuer (Foto: dapd)
Viele befürchten, dass sich ähnliches wiederholen könnteBild: dapd

"Etwas ist kaputt gegangen"

Ruth Ibegbuna ist die Vorsitzende des Projekts "Reclaim", einer Wohltätigkeitsorganisation, die im Großraum Manchester mit Teenagern aus verarmten Familien arbeitet. Vor allem versucht man, ihr Selbstvertrauen zu stärken.

DW: Wie haben Sie auf die Unruhen im vergangenen Sommer reagiert?

Ruth Ibegbuna: Wir waren am Boden zerstört. Manchester war die Stadt, in der sich die Unruhen zum Schluss ausgebreitet haben. Zuerst ging es ja in London und anderen Teilen des Landes los. Da machte sich in Manchester so ein Gefühl von Unausweichlichkeit breit, dass Manchester einfach als nächstes drankommen müsste. Und wir alle hatten das starke Gefühl, dass einfach nicht genug getan wurde, um dem vorzubeugen. Wir mussten wirklich mit unseren Jugendlichen reden, um sie davon abzuhalten, auf die Straße zu gehen.

Welche Auswirkungen hatten die Unruhen auf die Jugendlichen, mit denen Sie arbeiten?

Viele von ihnen, wie die gesamte Bevölkerung von Manchester, klebten geradezu am Fernseher, und sahen zu, wie unser Stadtzentrum zerstört wurde, wie vandaliert und geplündert wurde. Und sie waren genauso verärgert wie wir alle. Am nächsten Tag bestellte ich die jungen Leute zu einer Versammlung ein. Viele von ihnen haben bitterlich geweint, weil sie sehr wohl fühlten, dass etwas für immer kaputt gegangen war, und dass die Erwachsenen von nun an allen Jugendlichen mit Misstrauen begegnen würden. Das bewahrheitete sich in den Tagen nach den Unruhen.

Was hat man denn aus all dem gelernt?

Es ist deprimierend, aber ich habe nicht den Eindruck, dass hier irgendeine Lektion kapiert worden ist. Unruhen hat es hier auch schon vorher gegeben, zum Beispiel in den achtziger Jahren. Im Anschluss daran gab es viele Nachforschungen. Viele Leute schauten kritisch auf die Gesellschaft und fragten sich "Was ist hier falsch gelaufen, und wie können wir das ändern?" Leider haben wir nach den jüngsten Unruhen lediglich unsere Stadtzentren wieder zusammengeflickt und die Kriminellen einfach eingesperrt - und dann haben wir uns abgewendet.

Ich fürchte, wir haben jene Gespräche nicht geführt, die notwendig gewesen wären, um herauszufinden, was hier falsch gelaufen ist, was die tieferliegenden Ursachen der Unruhen sind. Ganz einfache Kriminalität hat hier natürlich eine sehr große Rolle gespielt. Aber irgendwie war da auch noch etwas anderes mit im Spiel. Und ich meine, dass wir dieses Etwas noch nicht wirklich ausgemacht und uns damit auseinandergesetzt haben.