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Gesellschaft

Staudamm vertreibt türkische Kaufleute

Diego Cupolo | Cathrin Hennicke
12. April 2018

Ein Mega-Staudamm im Südosten der Türkei zwingt die Bewohner einer antiken Siedlung, ihre Stadt zu verlassen. Doch viele wissen nicht, wohin sie gehen könnten. Diego Cupolo aus Hasankeyf.

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Südosttürkei zerstörte Felsenklippen und Erdarbeiten in Hasankeyf
Bild: DW/D. Cupolo

Merut Tekin stammt aus einer uralten Kaufmannsfamilie. So weit er zurückdenken kann, besitzt seine Familie ein Geschäft in Hasankeyf, einem historischen Handelsposten an der berühmten Seidenstraße im Südosten der Türkei.

Von neolithischen Höhlen durchzogene Felswände säumen hier den Fluss Tigris. Eine antike Stadtfestung überragt frühe osmanische Minarette. Wenn er aufblickt, kann Tekin von seinem Geschäft aus ein großes Stück Kulturgeschichte überblicken. Aber er ist wohl einer der letzten in seiner Familie, der sich an diesem Blick erfreuen kann.

Ein paar Kilometer flussabwärts steht der Ilisu-Damm kurz vor der Fertigstellung. Dieser Teil des Flussdeltas wird bald ein Stausee sein - und der geschichtsträchtige Ort Hasankeyf in den Wassermassen untergehen.

Nervenzehrendes Warten

Jahrzehntelang war der Mega-Damm geplant worden, trotz nationaler und internationaler Proteste. In deren Folge entzogen europäische Banken dem Projekt wichtige Kreditzusagen. Doch den Bau des Staudamms hat das nicht gestoppt. Mehr als 300 Quadratkilometer wird der Stausee einnehmen, etwa die Fläche von München. Wie es scheint, wird das Gebiet noch in diesem Sommer geflutet. Ein offizielles Datum dafür gibt es bis jetzt aber nicht. 

Archäologiestreit Deutschland Türkei Hasankeyf
Hasankeyf: Einst mächtige Stadt in Mesopotamien - heute dem Untergang im Mega-Stausee geweihtBild: STR/AFP/Getty Images

"Seit ich geboren wurde, stehe ich unter Stress wegen des Damms", sagt der 38-jährige Tekin der DW. "Immer ging das Gerücht: 'Dieses Jahr wird der Dammbau beendet'. Dann hieß es: 'Nächstes Jahr wird das Projekt fertig'", klagt der Geschäftsmann.

"Ich sage immer: Es ist so, als wärest du zum Tode verurteilt und stehst auf einem Stuhl mit einem Strick um den Hals. Aber der Stuhl wird nicht unter deinen Füßen weggestoßen. Das Seil wird dir aber auch nicht abgenommen." Er ergänzt: "Du stehst nur da und wartest und das ist schrecklich."

Jetzt, so scheint es, hat die Ungewissheit ein Ende. In diesem Frühjahr wird die letzte Turbine am 1200-Megawatt-Damm angeschlossen. Die Wasserbehörde der Türkei hat im Februar Räumungsbefehle an die Händler von Hasankeyf verteilt. Sie wurden angewiesen, ihre Geschäfte zu schließen und in den neuen Ort Hasankeyf zu ziehen, der auf der anderen Flußseite auf höherem Gelände gebaut wird.

Die Händler protestierten gegen die Räumungsbescheide. Sie beklagen sich darüber, dass die neue Stadt noch nicht fertiggestellt sei und sie weitab der historischen Stätten keine Geschäfte mehr machen könnten. Dabei seien sie darauf angewiesen, ihre Waren an vorbeireisende Touristen zu verkaufen.

Karte Infografik Ilisu Staudamm Türkei DEU

Während Tekin über das historische Erbe und verlorengehende Geschäft nachdenkt, kreisen seine Gedanken eigentlich um das, was da kommen wird. Denn er darf wegen der türkischen Umsiedlungs-und Entschädigungsgesetze nicht in die neue Stadt Hasankeyf umziehen.

Kein Platz für Junggesellen

Der Staat hat im neuen Hasankeyf insgesamt 710 Häuser gebaut - allerdings nur für Familien, die dort als Einwohner registriert sind. Tekin ist zwar hier geboren und aufgewachsen, aber er ist Single. Deshalb darf er weder ein Haus noch ein Geschäft in der neuen Siedlung kaufen.

Auch solche Händler, die bislang im alten Hasankeyf Läden hatten, aber in angrenzenden Orten wohnten, dürfen keine Immobilien kaufen und haben keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung.

John Crofoot
Dokumentiert den Niedergang Hasankeyfs: John CrofootBild: DW/D. Cupolo

Tekin scherzt über seine Lage und schiebt die Schuld an seinem Single-Dasein auf den Damm. Schließlich habe das heraufziehende Projekt die Bevölkerung über Jahrzehnte vertrieben. Von einstmals 10.000 leben jetzt noch 2000 Menschen das ganze Jahr über im Ort.

"Wenn wir heiraten wollen, können wir das nicht, weil die Bevölkerung abnimmt", beschwert er sich. Man könne gar keine Frau finden. "Und dann sagen sie dir: 'Du bist nicht verheiratet, also hast du keinen Anspruch auf ein anderes Haus.'"

Permanente Zerstörung und Aufbau

Die ersten Pläne für den Ilisu-Damm wurden schon in den 1950er Jahren entwickelt. Seit damals hat die Aussicht darauf, dass der Stausee irgendwann einmal das Gebiet unter sich begraben würde, auch Investoren abgeschreckt, sagt John Crofoot, ein Amerikaner, der in letzten sechs Jahren immer mal wieder in Hasankeyf lebte. Um auf den Ort aufmerksam zu machen, gründete Crofoot die Initiative "Hasankeyf Matters" ("Hasankeyf ist wichtig").

Türkei Hasankeyf
Ein Bild aus besseren Zeiten: Markttreiben in den Gassen Hasankeyfs Bild: DW/D. Cupolo

"Meiner Meinung nach haben die Menschen von Hasankeyf der Welt einen großen Dienst erwiesen, indem sie dieses Kulturerbe lebendig gehalten haben. Und sie haben einen hohen Preis dafür bezahlt." Crofoot ist sich sicher: "Die Menschen hier haben viele wirtschaftliche Chancen verpasst, indem sie in Hasankeyf geblieben sind."

Jahrelang hat Crofoot die Entwicklungen in Hasankeyf dokumentiert. In seinen Augen waren die letzten paar Monate die schwierigsten. Arbeitskolonnen sprengten Kalksteinklippen samt 10.000 Jahre alte Wohnhöhlen in die Luft. Mit dem Material wurden Täler aufgefüllt, die einst Touristenattraktionen waren.

Einwohner berichten der DW, dass sie von den Baustellen oft Explosionslärm hören. Auch die umfangreichen Baggerarbeiten belasten die Bewohner von Hasankeyf. Mit der Erde soll unter anderem die Klippe verstärkt werden, auf der die antike Stadtfestung steht. Denn sie soll künftig über dem Stausee thronen.

Türkei: Ein Kulturerbe versinkt

Die Abbruchpläne wurden niemals öffentlich gemacht, klagen die Einwohner gegenüber der DW. Auch unabhängige Umweltverträglichkeits-Studien habe es nicht gegeben.

"Akt von Dummheit"

Dem widerspricht Alexander Schwab. Jedes Haus in dem betroffenen Gebiet sei per Satellitenüberwachung aufgespürt worden, so der Vizepräsident der österreichischen Firma Andritz-Hydro, das den Dammbau beaufsichtigt. Mitarbeiter hätten dann jedes einzelne Haus aufgesucht und die Bewohner über die Baupläne informiert.

"Wir haben viel Zeit mit Diskussionen verbracht und damit, uns einen Überblick über die positiven und die negativen Auswirkungen zu verschaffen", erklärt Schwab der DW. "Würden wir nicht daran glauben, dass das ein gutes Projekt ist, hätten wir es nicht übernommen."

Ulrich Eichelmann widerspricht. Er ist Geschäftsführer der Organisation Riverwatch in Wien. "Wenn man all das zerstört, ist man nicht besser als die Taliban, die vor ein paar Jahren die Buddhastatuen von Bamiyan zerstört haben", sagt Eichelmann. " Das ist der gleiche Akt von Dummheit. Das ist verrückt."