Typisch deutsch? Die prägende Kraft von Klischees
21. Mai 2013Fleißig, pünktlich, aber humorlos. Unsere europäischen Nachbarn hegen so manches Klischee über uns Deutsche. Sogar als trinkfeste Haudegen waren wir im 18. Jahrhundert verschrien. Ina Ulrike Paul ist Geschäftsführerin des Zentralinstituts studium plus der Universität der Bundeswehr in München. Im Forschungsprojekt "Alle Kreter lügen. Europäische Nationalstereotypen" geht sie der Entstehung und Veränderung der europäischen Nationalstereotypen nach.
DW: Woher kommt das Klischee des trinkfesten und trinkfreudigen Deutschen?
Ina Ulrike Paul: Dieses Stereotyp aus Tacitus' "Germania" wurde seit der Renaissance immer wieder aufgegriffen – von Deutschen und Nicht-Deutschen. Die Deutschen zitierten es, weil man zugleich die vielen Tugenden wie Aufrichtigkeit, Tapferkeit, Freiheitsliebe und Sittenstrenge erwähnen konnte, die Tacitus den Germanen bescheinigt hatte.
Ausländische Beobachter zitierten diese angeblich nationale Eigenschaft, weil sie allgemein bekannt war, selbst wenn sie sie eigentlich widerlegten. Dazu ein hübsches Beispiel: Ein englischer Gentleman hatte fünf Monate lang Europa bereist und im frühen 17. Jahrhundert eine Reisebeschreibung publiziert. Die Titelillustration zeigt eine "Germania", die die deutsche Nation personifiziert, flankiert von "Gallia" und "Italia". Alle drei tragen einen krönenden Kopfschmuck. Erst auf den zweiten Blick sieht man, dass "Germania" ein Fässchen auf dem Kopf trägt und sich übergibt – wie es die Leserinnen und Leser von "den Deutschen" erwarteten.
Die Deutschen galten also als ein Volk von handfesten Trinkern?
Ja, obwohl dieser Reisende namens Thomas Coryat schreibt, dass er bei seiner Reise durch Deutschland nicht mehr Betrunkene gesehen habe als anderswo. Das Titelbild seines Buches widerlegt diese Beobachtung. Tatsächlich funktionieren Stereotypen meist so, dass Eindrücke aus eigener Anschauung als Ausnahme gelten: Man selbst hat zwar keine betrunkenen deutschen Zecher gesehen, aber grundsätzlich trinken sie zu viel – wie ja jeder weiß…
Ihr Forschungsprojekt heißt "Alle Kreter lügen". Der Name bezieht sich auf den Ausspruch des Philosophen Epimenides, der von Kreta stammte, wonach alle Kreter lügen.
Dieser Satz gilt als Paradoxon. Er beschreibt einen unauflösbaren Widerspruch: Wenn ein Kreter wie er diesen Satz sagt, was stimmt dann?
Eine wahre Kopfnuss. Aber was hat das mit Stereotypen zu tun?
Auch Stereotypen bestätigen sich selbst, ihre Widerlegung ist meist vergeblich. Der Beobachter hegt bestimmte Erwartungen und lässt davon seine Wahrnehmung bestimmen. Man kann die gängigen Selbst- und Fremdbilder der heutigen Europäerinnen und Europäer nicht verifizieren oder falsifizieren, weil es sich um Bilder handelt, um Fiktionen, um angebliche Eigenschaften von ein, zwei, zehn Individuen, die undifferenziert auf Abermillionen Menschen übertragen werden.
Warum haben Sie sich trotzdem an dieses große Thema herangetraut?
Mir geht es darum zu erforschen, welche stereotypen Bilder die Europäerinnen und Europäer im 17. und 18. Jahrhundert, aber auch im 19. Jahrhundert über sich selbst oder über die anderen Nationen hatten. Wann veränderten sie sich? Oder blieben sie immer gleich? Dabei interessiert mich besonders das 18. Jahrhundert als Zeitalter der Aufklärung in Europa. Von einem Nationalismus in unserem heutigen Sinne kann man erst im 19. Jahrhundert sprechen.
Aber wie sind Sie denn an diese Informationen gekommen?
Ich habe als "Filter" der Stereotypen ein Medium ausgewählt, das im 18. Jahrhundert bei Gelehrten wie Gebildeten überaus populär war und das den Wissensstand über alle Gebiete von Wissenschaften und Künsten zum Erscheinungsdatum des jeweiligen Werkes festhält: die neu aufgekommenen Enzyklopädien in den Muttersprachen Europas.
Hier steht in einschlägigen Lexikonartikeln über die einzelnen Reiche und Republiken Europas oder im Stichwort "Europa", was die Menschen eines Landes zu diesem Zeitpunkt über sich selbst und über ihre Nachbarn dachten. In den Lexikonartikeln waren die ethnographische, historische und andere Literatur aus der Antike, der Renaissance und der Aufklärung zusammengefasst worden. Und gaben so den Leserinnen und Lesern "verdichtet" wieder, wie sie selbst seien, wie die Polen, die Spanier, die Ungarn und so fort.
Was stand denn beispielsweise in einer solchen Enzyklopädie?
Ein Holländer las in einer niederländischen Enzyklopädie zum Beispiel: Die Niederländer sind eine freiheitsliebende, kriegerische und kaufmännische Nation. Die positiven Eigenschaften dieses Eigenbildes werden betont und zugleich einige wenige negative Eigenschaften – meist die, die die anderen Europäer den Niederländern zuschrieben, zugegeben – aber heruntergespielt.
Änderten sich die Klischees im Laufe der Zeit?
Durchaus. Die fiktiven Nationalcharaktere änderten sich aus politischen, ökonomischen oder anderen Gründen. In manchen Fällen führte die wechselseitige Lektüre der "Nationalenzyklopädien" – der Ausdruck ist mit Vorsicht zu gebrauchen – auch zu Reaktionen in späteren Auflagen. Kommen wir auf das Vorurteil der deutschen Trunksucht zurück. 1709 finden wir es in einem Leipziger Lexikon. In jüngeren Auflagen dieses Lexikons wurde diese Aussage relativiert: Die Deutschen hätten vielleicht früher zu viel getrunken, heute aber nicht mehr. Blicke man aber über die Grenze nach Polen, so würde da ganz schlimm getrunken. Polnische Leser wiederum fanden, dass eher die Russen maßlose Trinker waren.
Eine letzte Frage: Kann man überhaupt aus Stereotypen ganz ausbrechen?
Obwohl Einstein gesagt hat, dass man eher einen Atomkern spalten könne, als ein Vorurteil zu zerstören, kann man Stereotypen ändern. Ich glaube nicht, dass heutzutage Deutsche negative Urteile gegenüber Frankreich abgeben würden oder umgekehrt Franzosen die alten anti-deutschen Stereotype wiederholten: Die so genannte "Erbfeindschaft" wurde tatsächlich überwunden.
Ina Ulrike Paul lehrt Neuere deutsche und europäische Geschichte an der Freien Universität Berlin.