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Deutschland ringt um kulturelle Werte

Kate Müser21. Mai 2015

Sind Literatur und Live-Musik banale Handelsgüter? Deutschlands Kulturschaffende sind besorgt, dass TTIP die Kultur von ihrem geschützten Podest stoßen wird. Sie protestieren am Tag der Kulturellen Vielfalt.

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Geige (Foto: Fotolia/Alexey Klementiev)
Bild: Fotolia/Alexey Klementiev

Deutschlands ältestes Orchester, das Staatsorchester Kassel, wurde 1502 gegründet und seitdem durchgängig öffentlich finanziert. Erst ein Jahrhundert später brachte die "Mayflower" die ersten freiheitssuchenden Pilger nach Nordamerika, wo sie staatlicher Unterdrückung entfliehen wollten. 274 Jahre später wurde die Unabhängigkeitserklärung unterschrieben, die das Recht auf "Leben, Freiheit und das Streben nach Glück" in der amerikanischen Seele verankerte.

"Es gibt so gut wie keine privaten Orchester in Deutschland", sagt Gerald Mertens, Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung (DOV). In den USA wiederum herrscht auch in der Kulturszene die gleiche "survival of the fittest"-Mentalität, die die frühen Einwanderer durch die kalten Winter brachte. Dort entwickelte sich eine langjährige Tradition der privaten Kulturförderung durch Stiftungen und Unternehmen. In Deutschland wiederum liegt Kultur überwiegend in den Händen des Staates - ein Einfluss, von dem sich die amerikanische Gesellschaft befreien wollte.

Regulierung soll Vielfalt fördern

Dieser grundsätzliche Unterschied macht viele Kulturschaffende in Deutschland nervös, wenn sie auf das geplante transatlantische Handelsabkommen, TTIP genannt, schauen. Die UNESCO kürte 2001 den 21. Mai zum Tag der Kulturellen Vielfalt und dieses Jahr nimmt der Deutsche Kulturrat dieses Datum zum Anlass, um zum großen Protest gegen TTIP aufzurufen.

TTIP wird seit Juli 2013 verhandelt und hat das ehrgeizige Ziel, Handelshemnisse zwischen der EU und den USA abzuschaffen. Wenn die zwei Märkte vereint würden, würden sie über 40 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts umfassen. Wegen lauter Plädoyers aus Frankreich wurde jedoch die audio-visuelle Branche - zum Beispiel Fernsehen, Film und Popmusik - schon vom Verhandlungstisch gefegt. Doch der Rest der Kulturszene zittert - insbesondere Verlage, Autoren und klassische Musiker.

Der UNESCO-Tag eignet sich besonders gut zum Protest, da Deutschlands Kulturpolitik Vielfalt großschreibt, sie reguliert und durch Subventionen fördert. Viele Kulturschaffende in Deutschland fürchten in erster Linie, dass TTIP zum Verlust von kultureller Vielfalt führen könnte und sie dem kalten Wind des freien Marktes ausgesetzt würden.

TTIP Protest Augsburg (Foto: picture-alliance/dpa/Stefan Puchner)
39 Prozent der Deutschen sagen, dass sie TTIP unterstützenBild: picture-alliance/dpa/Stefan Puchner

"Die Buchpreisbindung ermöglicht ja eine gewisse Vielfalt und ermöglicht auch kleineren Verlagen und Büchern mit kleineren Auflagen wertgeschätzt oder wahrgenommen zu werden", sagte die Krimi-Autorin und Generalsekretärin von PEN Deutschland, Regula Venske, in einem Interview im Herbst 2014 im Rahmen des DW-Features"Gutenberg im Cyberstorm".

In Deutschland wird der Preis eines Buchs vom Verlag festgelegt, der für jeden Händler verbindlich gilt. Buchhandlungen - und auch Autoren - können also nicht über den Preis konkurrieren, sondern nur mit gutem Service, Auswahl und Qualität punkten. Die Buchpreisbindung wurde im späten 19. Jahrhundert als eine Abmachung unter Verlagen eingeführt und 2002 endgültig zum Gesetz. Da sie zurzeit nicht für ausländische Verlage gilt, könnte TTIP die Buchpreisbindung abschaffen, wenn große Online-Händler und Verlage wie Amazon und Google genügend Lobbyarbeit leisten.

"Die Befürchtungen des Buchhändlers sind, dass er seine Existenzgrundlage verliert, nämlich die Ladenbuchpreisbindung", sagt Holger Schwab, Besitzer der kleinen Bonner Buchhandlung buchLaden 46, die nächsten Monat ihr 40. Jubiläum feiert.

Alle Buchläden in der Stadt würden mit der Buchpreisbindung verschwinden, warnt Schwab und hat dabei Online-Giganten wie Amazon im Blick.

"Es gibt zu viele Bücher"

Amazon verkauft jedes achte Buch in Deutschland, wo es sich an die Buchpreisbindung halten muss, verkauft aber jedes dritte Buch im Land der unbegrenzten Preismöglichkeiten. Das führt jetzt schon dazu, dass einige deutsche Buchhändler über einen Karrierewechsel nachdenken. Der marktorientierte Ansatz der Amerikaner bedeutet, dass viele Bücher für die Massen erschwinglich bleiben, aber nur die mit kommerziellen Erfolgsaussichten werden überhaupt angeboten.

Deutschland buchLaden 46 in Bonn (Foto: DW/K. Müser)
Holger Schwab vertraut auf die deutsche GesetzgebungBild: DW/K. Müser

Das deutsche Preissystem setzt voraus, dass deutsche Kunden so hungrig auf neuen Lesestoff sind, dass stolze Preise sie nicht abschrecken und Rabatte nicht unbedingt mehr bildungsferne Menschen zu Lesern machen. "Es gibt zu viele Bücher. Das ist ein großes Tabu - worüber keiner redet", gesteht Schwab, fügte aber hinzu, dass Überfluss in der Lebensmittelindustrie auch für selbstverständlich gehalten wird.

Weil die aktuelle Buchpreisbindung ausländische Verlage benachteiligt, wird sie die TTIP-Verhandlungen vermutlich nicht überleben. Denkbar ist aber eine nicht diskriminierende Version des Gesetzes, besonders mit Hinblick auf andere EU-Länder, in denen ebenfalls eine Buchpreisbindung gilt, wie zum Beispiel in Italien, Belgien und Dänemark.

"Sofern die Regeln für eine Preisbindung nicht diskriminierend sind und gleichermaßen für in der EU produzierte Bücher und für Importe gelten, gibt es kein Problem", laut einer Publikation der Europäischen Kommission vom Juli 2014.

Sind Bücher wie Margarine?

Das Problem ist aber, dass keiner genau weiß, was vereinbart werden wird. Die Verhandlungen werden komplett geheim gehalten und die Vertreter haben absolute Vertraulichkeit vereinbart.

Die Buchpreisbindung in Deutschland beruht auf der Überzeugung, dass Bücher einen solch hohen kulturellen Wert haben, dass ihnen ein besonderer Schutz gebührt. "Ein Buch ist kein Produkt wie Margarine oder Waschpulver", sagt Venske.

Schwab setzt Bücher sehr wohl mit Lebensmittel gleich. "Das Buch ist natürlich eine Handelsware. Wir verkaufen die Bücher". Er fügt hinzu: "Alle glauben, wenn man nichts regelt, ist es am besten. Wir sehen es im Lebensmittelbereich, wo Monsanto der einzige Konzern ist, dessen Lebensmittel wir noch essen." Schwabs Kommentar erinnert an Ängste aus der Wirtschaft, wo Chlorhühner zum Symbol der Befürchtung werden, dass genetisch modifizierte Lebensmittel den deutschen Markt stürmen werden, wenn TTIP umgesetzt wird.

Deutschland buchLaden 46 in Bonn (Foto: DW/K. Müser)
Alle Buchläden in der Stadt würden mit der Buchpreisbindung verschwinden, glaubt SchwabBild: DW/K. Müser

Obwohl der Umfang des Bereichs "Kultur" im transatlantischen Handel nicht klar definiert wurde, steht fest, dass das Verlagswesen sowieso nicht dazu gerechnet wird, sondern als Handelsgut gelten wird - wie auch Butter oder Waschmittel. Orchester haben deshalb einen Vorteil gegenüber Büchern: Die deutsche Orchester- und Theaterlandschaft wurde 2014 auf die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes gesetzt. Das verpflichtet deutsche Politiker dazu, sie zu schützen. Die USA haben aber den UNESCO-Vertrag bezüglich des Weltkulturerbes nie unterzeichnet - und das lässt Raum für Zweifel.

Konzert zum Preis einer Kinokarte

"Man kann die Befürchtung äußern, dass beispielsweise ein US-Orchester, wenn es in Deutschland auf Tournee gehen will, sich eventuell auf dieses Handelsabkommen berufen könnte", erklärt Gerald Mertens von der Deutschen Orchestervereinigung. "Daraus könnte man unter Umständen einen Anspruch auf eine zusätzliche öffentliche Finanzierung ableiten".

Musikaufnahmen und die Popmusik-Industrie gehören zum ausgenommenen audio-visuellen Bereich, aber Deutschlands 130 professionelle Orchester könnten durchaus wegen ihrer starken Abhängigkeit vom Staat Teil der TTIP-Verhandlungen werden. In den USA gibt es rund 120 Orchester mit einem Budget von über 2,5 Millionen US-Dollar, aber die Bevölkerung ist viermal so groß wie in Deutschland und die Ensembles werden durch private Stiftungen und das National Endowment of the Arts finanziert. Ein Anspruch auf deutsche Steuergelder könnte durchaus für ein kleines amerikanisches Orchester mit knappem Budget interessant werden.

Gerald Mertens
Gerald Mertens spricht für die Deutsche OrchestervereinigungBild: DOV

Wäre aber ein wenig Wettbewerb nicht schlecht in Deutschland, wo die gesättigte Orchesterlandschaft um ein schrumpfendes jüngeres Publikum wirbt?

"Es ist die Kultur, die hier historisch gewachsen ist", meint Mertens. Private Förderung sei in Deutschland so gut wie nicht vorhanden. Die Absicht hinter Deutschlands öffentlicher Förderung ist einfach: "Für neun Euro - zum Preis einer Kinokarte - soll jeder ein öffentliches Konzert oder Theaterstück besuchen können." Karten für ein Konzert des New York Philharmonic fangen bei circa 30 US-Dollar an.

Wenn TTIP trotz des UNESCO Abkommens gleiche Ansprüche für deutsche und amerikanische Orchester erlauben sollte, könnten öffentliche Gelder so spärlich verteilt werden, dass Eintrittspreise erhöht werden - oder deutsche Orchester schließen.

Alles dreht sich ums Geld

Im Vergleich zu Orchestern legt der Buchmarkt mehr Wert auf die Erhaltung von Vielfalt als auf günstige Preise, und Vielfalt ist das Motto bei den TTIP-Protesten am Donnerstag. Konzerte, Lesungen, Meetings und Podiumsdiskussionen stehen auf der Agenda.

Schwab sagte, laut der deutschen Politiker, mit denen er in Kontakt steht, könne TTIP nicht aufgehalten werden. Mertens ist vorsichtiger: "Wir sind ja nicht gegen Freihandel. Aber wir haben gewisse Sorge, dass die Kultur als ein Nebenthema unter vielen anderen, die wirtschaftlich viel größer und wichtiger sind, einfach unter die Räder gerät."

Die Amerikaner schätzen die Freiheit des Marktes und der Kunst und haben eine lange Tradition der privaten Förderung. Die Deutschen legen Wert auf staatlichen Schutz und Zugang für alle. Niemand kann wissen, wie die Verhandlungen ausgehen, aber es ist klar, dass TTIP den Raum zwischen kulturellen Werten und finanziellen Interessen jetzt schon auf den Prüfstand stellt.