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"Totaler Kriegseinsatz“: Drehen bis zum Ende

Jochen Kürten
5. Mai 2020

Der Krieg war verloren. Am 8. Mai vor 75 Jahren trat die bedingungslose Kapitulation der Deutschen in Kraft. Das NS-Kino hat die Niederlage lange geleugnet. Warum wurden in Nazi-Deutschland bis zuletzt Filme gedreht?

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Adolf Hitler in der ersten Reihe eines Kino neben anderen Politikern im Jahre 1933
Adolf Hitler war ein Filmfan, hier bei einer Vorführung im Jahre 1933Bild: picture-alliance/akg-images

Das Medium Film war zwischen 1933 und 1945 wichtiger Bestandteil der Propagandamaschinerie der Nationalsozialisten. Von allen Künsten wurden Film und Kino von der nationalsozialistischen Elite um Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Co. am stärksten gefördert. Bis zuletzt. Daran erinnert Rainer Rother, Direktor der Deutschen Kinemathek, im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Auch im Film herrschte totaler Kriegseinsatz".

Die zwei Seiten der Volkslenkung: Ablenkung und Propaganda

Noch im April 1945, als weite Teile Deutschlands schon in Trümmern lagen, wurden im zerstörten Berlin in großen Kinopalästen Unterhaltungs- und Propagandafilme aufgeführt. Rother, der sich mit dem Thema seit Jahren beschäftigt und vor kurzem das Buch "Zeitbilder - Filme des Nationalsozialismus" veröffentlichte, weist auf die - aus Sicht der Nazis - überragende Bedeutung des Mediums Film hin.

Wenige Monate vor Kriegsende noch sollte die Bevölkerung abgelenkt, aber auch im Glauben an den "Endsieg" bestärkt werden: "Sie (die deutsche Filmproduktion, A.d.R.) ist 1944 weitergegangen, es gab auch Klagen seitens des Propagandaministeriums, dass die Anzahl der Filme nicht ausreichend sei. Es gab sehr deutlich das Bestreben, die Film-Produktion aufrechtzuerhalten und auch auf einem hohen Niveau zu erhalten, damit die sogenannte Grundversorgung gesichert war."

Flash-Galerie Sowjets befreien Berlin
Nazi-Deutschland war besiegt: Soldaten der Roten Armee vor dem Brandenburger TorBild: picture-alliance/dpa

Mochten die Bombenangriffe auf deutsche Städte immer stärker werden, die Deutschen sollten Filme in den Kinos sehen: "Das hängt sicher auch damit zusammen, dass dies als Faktor betrachtet wurde, der die Zufriedenheit oder die Akzeptanz bei der Bevölkerung aufrechterhalten konnte", erklärt Rother. Zwei Arten von Filmen sollten helfen, diese "Zufriedenheit" am Leben zu halten: Unterhaltungsproduktionen, die die Menschen vom Kriegsalltag ablenkten - und nationalsozialistische Propagandastreifen für den "Durchhaltewillen" der Soldaten an der Front und der vielen Helfer zu Hause.

Populäre Unterhaltungsstoffe sollten die Menschen ins Kino locken

Wobei die Unterhaltungsfilme den mit Abstand größeren Teil ausmachten: "Eindeutig orientiert sich die Zielsetzung in den letzten Kriegsjahren stärker in Richtung des 'unterhaltsamen' Films." Das war in den 1930er Jahren noch anders, so Rother: "Nach dem Kriegsbeginn, bis ca. 1942, gab es einen wahren Aufschwung an Propagandafilmen." In dem Moment, in dem die Kriegslage sich dann entscheidend geändert habe, wurde das dann "als kontraproduktiv eingeschätzt und umgesteuert: Das heißt: Es wurden relativ wenige Propagandafilme in Auftrag gegeben oder produziert, und es wird deutlich mehr auf die Unterhaltungsgenres gesetzt."

Rainer Rother, künstlerischer Leiter der Deutschen Kinemathek und Buchautor
Rainer Rother, künstlerischer Leiter der Deutschen Kinemathek und BuchautorBild: picture-alliance/dpa

Ablenkung also bis zuletzt. Aus heutiger Sicht ein irrsinniger Gedanke. Ein ganzes Volk, das jahrelang der nationalsozialistischen Ideologie geglaubt hatte und das zu großen Teilen freiwillig den Weg in Krieg und Zerstörung gegangen war, das Rassismus und Antisemitismus gelebt hatte, sollte mit Operette und Melodrama in den letzten Kriegsmonaten bei der Stange gehalten werden - inmitten von Trümmern und täglichem Sterben.

Zwischen viel Massenware entstanden auch ein paar Filmperlen

Dabei wurden in jenen Jahren durchaus ein paar Filme gedreht, die die Zeiten überstanden haben. Die Palette der Unterhaltungsfilme, die in den Studios der UFA und der anderen Produktionsfirmen entstanden, war breit gefächert: "Es ist bunt gemischt", erzählt Rainer Rother und nennt als Beispiel den Regisseur Helmut Käutner: "Käutners wunderschöner Film 'Unter den Brücken', eine Romanze, die sich vom Krieg ganz abwendet, sicher einer der stärksten Filme, die er gedreht hat." Der habe aber erst nach dem Krieg, beim Festival in Locarno, Premiere gefeiert. Doch das waren Ausnahmen. Typischer seien Musik- und Operettenproduktionen wie "Die Frau meiner Träume" mit Marika Rökk gewesen, der im Sommer 1944 aufgeführt wurde.

Filmstill Unter den Brücken: Ein Paar hält sich eng umschlungen auf einem Boot im Wasser
Ein Film voller Liebe und Zärtlichkeit: Helmut Käutners "Unter den Brücken" mit Hannelore Schroth und Carl RaddatzBild: Imago Images/United Archives

Das deutsche Kino setzte also bis zuletzt auf Ablenkung, Unterhaltung, Zerstreuung. "Der Wille zur Agitation schien erschöpft" schreibt der Filmpublizist Karsten Witte in der Publikation "Geschichte des Deutschen Films": "Nach der Kriegswende in Stalingrad kamen die Melodramen wieder. Resignation, Ästhetizismus, weiche Dialoge und flutende Musik herrschten neuerlich vor."

Propaganda blieb bis 1945 Kernbestandteil des deutschen Films

Doch das war nur die eine Seite nationalsozialistischer Filmpolitik, wenn auch die beherrschende. Sabine Hake, die in den USA und in Deutschland lehrt, schreibt in ihrer deutschen Filmgeschichte: "Bis zum Ende des Regimes blieb der Film ein Produkt der Kompromisse, das die widerstreitenden Funktionen von Unterhaltung und Propaganda zu bedienen, unterschiedliche Interesse und Geschmäcker zu befriedigen und sowohl populistische Tendenzen als auch ideologische Positionen zu vermitteln hatte." Die Ideologie, so Hake, blieb dabei ein "Kernbestandteil" des NS-Films.

Filmstill Kolberg: Preußischer Offizier in Uniform
In "Kolberg" geht es um Widerstand um jeden Preis: Der preußische Offizier Loucadou (Paul Wegener) spielt dabei eine unrühmliche RolleBild: Imago Images/Mary Evans Archive

Berühmt-berüchtigt ist heute vor allem der monumentale deutsche Propagandafilm "Kolberg", der den Durchhaltewillen der Zuschauer und Soldaten an der Front stärken sollte: "Kolberg" war sicher seitens des Propagandaministeriums auch als ein Zeichen gedacht", beschreibt Rainer Rother die Produktion, die von Regisseur Veit Harlan ("Jud Süß") realisiert wurde und die noch in den letzten Kriegswochen sowohl an der Front als auch in den heimischen Kinos mit vielen Kopien zum Einsatz kam.

Mit "Kolberg" sollten die Menschen auch auf den Tod vorbereitet werden

Doch "Kolberg" trug in seinem Kern noch eine andere Botschaft: War er auf der einen Seite ein Appell an den "Durchhaltewillen" der Deutschen, so vermittelte er auf der anderen Seite auch schon eine Ahnung davon, dass der Krieg bereits verloren war: "Ich glaube, es war mit diesem Film nicht mehr primär oder allein verbunden worden, dass er in der Bevölkerung den Widerstandsgeist entfachen und so die Kriegswende in der letzten Minute erreichen würde", erklärt Rother.

Filmregisseur Veit Harlan 1954 mit Kamera
"Kolberg"-Regisseur Veit Harlan, hier 1954, konnte in der Bundesrepublik nach einigen Jahren wieder Filme drehenBild: picture-alliance/dpa

"Kolberg" habe auch "etwas von einem Statement gegenüber der Nachwelt" gehabt, sagt Rother: "So wird es manchmal auch kolportiert, dass man gesagt habe, man sei jetzt in der Situation, dass, wie auch immer man sich verhalte, man an das eigene Bild für kommende Generationen denken müsse. Das ist schon nicht mehr rational, das ist tatsächlich Symbolpolitik auf schlimmste Art und Weise, was dort vollzogen wurde."

Auch "Kolberg" gehört noch zum Korpus der "Vorbehaltsfilme"

Ein Durchhaltefilm also, der kurz vor der sich abzeichnenden Niederlage des mörderischen NS-Regimes noch in die Kinos kam, der aber möglicherweise untergründig noch eine andere Botschaft mit im Gepäck trug - eine Botschaft für die Nachwelt, die eine irrationale, fatalistisch geprägte "Todessehnsucht" enthielt: "In vielen melodramatisch grundierten Filmen, und 'Kolberg' ist ein sehr stark melodramatisch grundierter Film, gibt es diese Todeserwartung", sagt Rother.

Man sollte sich vielleicht in diesen Tagen, an denen der Ereignisse vor 75 Jahren gedacht wird, daran erinnern: Nationalsozialistische Ideologie wabert in manchen Köpfen weiter herum. Auch darum gehören Filme wie "Jud Süß" und "Kollberg" hierzulande übrigens immer noch zu den sogenannten "Vorbehaltsfilmen":  Sie sind nicht für den normalen Kinovertrieb zugelassen. 

Zum Weiterlesen: Rainer Rother: Zeitbilder – Filme des Nationalsozialismus, Bertz + Fischer Verlag (Link Bertz und Fischer) 2019, ISBN 978-3-86505-263-6; sowie die beiden älteren Veröffentlichungen: Geschichte des Deutschen Films, erschienen beim Verlag J.R.Metzler und Sabine Hake: Film in Deutschland: Geschichte und Geschichten seit 1895, Rowohlt Verlag.