"Tief verwurzeltes Misstrauen"
10. Juni 2012Der indische Premierminister Manmohan Singh hat mehrfach sein politisches Ziel betont, dass er den Siachen- zu einem "Gletscher des Friedens" machen wolle. Doch das Nachrichtenmagazin "India Today" warnt, dass ein Abkommen zwar eine ungemeine Leistung für den indischen Premier sei, doch wäre dieses teuer erkauft, denn das Volk wolle keinen Zentimeter des 1984 eroberten Gebiets abgeben.
Auch in Pakistan kochen die Emotionen hoch. Bei einem Lawinenabgang Anfang April wurden 139 pakistanische Soldaten mitsamt weiten Teilen des Stützpunkts am Siachen-Gletscher unter den Schneemassen begraben. Niemand überlebte das Unglück. Viele hoffen daher nach endlosen Verhandlungsrunden auf einen Durchbruch. Doch das wird schwer, sagt der indische Politikwissenschaftler Amitabh Mattoo, ein Kenner der indisch-pakistanischen Beziehungen: "Die Beziehungen haben sich etwas entspannt, nachdem der pakistanische Präsident Asif Ali Zardari vor kurzem nach Delhi kam und er dann später in Ajmer einen Sufi-Schrein besucht hat. Es gibt wieder einen zarten Dialog. Doch wenn es ein Thema gibt, welches das tief verwurzelte Misstrauen zwischen den Nachbarn am besten symbolisiert, dann ist es Siachen."
Große symbolische Bedeutung
Die Wurzeln des Konflikts um den Siachen-Gletscher reichen bis zur Unabhängigkeit beider Staaten von Britisch-Indien 1947 zurück. Seit damals zanken sich die ungleichen Bruderstaaten um Kaschmir, zu dem das Siachen-Gebiet gehört. In den 1970er Jahren und frühen 1980er Jahren erlaubte Pakistan sechzehn Expeditionen über den Siachen-Gletscher, nachdem das Interesse von Bergsteigern am zweitlängsten Gletscher der Welt außerhalb der Polarregionen aufkam. Nachdem sich Medienberichte häuften, dass die Bergsteiger von Offizieren der Streitkräfte Pakistans begleitet wurden, reagierte Indien. Am 13. April 1984 begann die Operation Meghdoot, die als "Siachen Krieg" ins Geschichtsbuch ging. Indien wollte Pakistan zuvorkommen, das nach indischen Angaben eine eigene Aktion plante. Die Inder besetzten die wichtigsten Bergpässe und halten seitdem zwei Drittel des Gletschers. Die militärische Spannung wird zum Dauerzustand.
Der ehemalige pakistanische Präsident Pervez Musharraf, der selbst 1987 auf dem Gletscher einen Angriff gegen indische Stellungen leitete, schreibt in seinen Memoiren, dass Pakistan 900 Quadratkilometer seines Staatsgebiets verloren habe. Indien soll etwa 1000 Quadratkilometer dazu gewonnen haben. Mit mehr als 6000 Metern über dem Meersspiegel ist der Siachen-Gletscher inzwischen "das höchste Schlachtfeld der Welt" getauft worden. 4000 Soldaten sollen Schätzungen zufolge ihr Leben verloren haben. Die meisten starben nicht bei den kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern zu Beginn des Konflikts bei unwirtlichen Bedingungen mit Temperaturen von -40°C an Erschöpfung, Höhenkrankheit oder Unfällen.
Hohe Verluste
"Ist es das wirklich wert?" fragen Stimmen auf beiden Seiten daher immer wieder. Bis 2005, als die ersten Verhandlungen zwischen Indien und Pakistan begannen, soll der Konflikt Indien zudem bereits zehn Milliarden US-Dollar und Pakistan etwas sieben Milliarden US-Dollar gekostet haben. Die ökologischen Auswirkungen der Militärpräsenz auf die Hochgebirgslandschaft sind bisher ungeklärt. Professor Amitabh Mattoo, der derzeit an der Universiätät Melbourne lehrt, erklärt, warum das Problem nicht rational gelöst werden kann: "Wenn es um nationale Interessen geht, denkt keine Seite logisch." Der Konflikt werde oft bewertet, ohne die Geschichte beider Länder zu kennen, so Mattoo: "Es geht auch um die öffentliche Meinung und um die vielen Institutionen, die dranhängen."
Fragiler Friedensprozess
Die Fronten sind verhärtet. Beide Länder wollen ihr Gesicht nicht verlieren, die Gesprächsführer fürchten unpopuläre Zugeständnisse. Indien fordert ein Abkommen vor einem Truppenabzug. Pakistan besteht auf dem Rückzug beider Armeen auf die Positionen, die beide innehatten, bevor die indische Armee 1984 den größeren Teil des Gletschers besetzte. Dies sei in der Theorie eine Lösungsmöglichkeit, glaubt der pakistanische Politikwissenschaftler Hassan Askari Rizvi aus Lahore. "Das Gebiet könnte dann als entmilitarisierte Zone deklariert werden." In einem gemeinsamen Komitee könne man darüber nachdenken, wie diese Zone für wissenschaftliche Forschungen und Bergsteiger geöffnet werden könnte. Wichtig sei aber, dass es überhaupt einen Dialog gebe, so Rizvi, denn der Friedensprozess komme nach den Anschlägen auf die indische Finanzmetropole Mumbai 2008 nur langsam wieder in Gang: "Der Handel zwischen beiden Ländern ist natürlich ein Thema. Hier laufen ja die Gespräche. Zunächst sollte man die leichten Themen lösen. Siachen ist ein schwieriges Thema, weil Politik und Militär involviert sind." Aber letztendlich, so Rizvi, seien es die kleinen Gesten, die zählten.