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Tief durchatmen

15. November 2014

Der westliche Mensch ist fixiert auf das Einatmen, das Festhalten, so als ob er nicht genug bekommen könnte. Gefragt ist die Kunst des Loslassens, des Ausatmens, meint P. Gerhard Eberts von der katholischen Kirche.

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Benediktinermönche der Abtei Tholey Archiv 2002
Bild: picture-alliance/dpa

„Und jetzt tief und kräftig atmen!“ Trotz ihrer Geburtswehen befolgt die Mutter die Anweisungen der Hebamme. Sie weiß: Das erleichtert ihr den Geburtsvorgang und führt dem Kind notwendigen Sauerstoff zu. Das Neugeborene belohnt die Mühen der Mutter mit dem ersten Schrei, dem ersten Atemzug. Auf Essen und Trinken können wir eine Zeitlang verzichten. Aber ohne Atmen gibt es kein Leben.

Vom Atem sagen wir heute, dass er nicht nur mit unserem Stoffwechsel zu tun hat, sondern in der Art, wie einer atmet, sich auch Haltung und Fehlhaltung des Menschen zeigen. Der moderne Mensch scheint vor allem auf das Einatmen fixiert zu sein – so als ob er nicht genug kriegen könnte. Das betrifft die materiellen Dinge, den Konsum. Es betrifft Machtstreben und Sexualität und hat auch sogar Auswirkungen auf das religiöse Leben. Meditationserfahrene Christen in den Kirchen des Ostens amüsieren sich manchmal über die Christen in Westeuropa – über die Lateiner, wie sie sagen: Der Vorwurf lautet: Ihr seid einem religiösen Aktivismus verfallen! Ihr beherrscht nur die Technik des Einatmens. Die Kunst des richtigen Ausatmens ist euch fremd.

Festhalten als eine Form des Unglaubens

Hinter dieser Haltung, so wird gewarnt, stecke nicht nur eine stressbestimmte Unsitte, sondern auch Unglaube. Denn bei dieser Haltung kommt das Schweigen zu kurz, das Zuhören und die Meditation. Zu sehr wird auf eigene Programme und Leistungen gesetzt und zu wenig auf das vertraut, was uns geschenkt wird. Dabei ist es einfach: Man muss nichts tun, um erfolgreich auszuatmen. Sobald wir die Anspannung aufgeben, fließt der Atem wie von selbst aus uns heraus. Atemübungen oder, wie es die Therapeuten nennen, das „verbundene Atmen“ unterstützen diese Fähigkeit, Blockierungen aufzulösen und Disharmonien auszugleichen.

Wie sehr der Atem mit unserer Person zusammenhängt, spiegelt sich in volkstümlichen Redensweisen. Die Anwesenheit eines bestimmten Menschen kann uns den Atem nehmen. Geht jemand in seinen Äußerungen zu weit, werden wir ihn auffordern: Jetzt halt doch mal dieLuft an!Wenn wir seelisch unangenehme und belastende Situationen erleben, sind wir atemlos, wenn wir sie überstanden haben, atmen wir auf. Manchmal atmen wir tief durch. Ausgeglichene Menschen erkennen wir am langen Atem.

Die Kunst der kleinen Pause

Kann man das richtige Ein- und Ausatmen lernen? Ja! Fast alle Religionen bieten Atemtechniken an. Die Globalisierung, die auch den Austausch zwischen den Religionen betrifft, macht es möglich, gerade auf diesem Gebiet voneinander zu lernen. Wer beispielsweise mit Mönchen die Psalmen betet oder den Choral singt, lernt nach und nach die kurzen Atempausen einzuhalten, die zwischen den einzelnen Versen liegen. „Sela“ nennt man den kleinen Stern, der innerhalb jedes Psalmverses die Pause anzeigt. Dieses kleine Wort „Sela“ ist schwer zu übersetzten. Es hat persische, arabische und hebräische Wurzeln und zeigt damit schon seine Bedeutung an. Am besten übersetzt man das Wort mit „kleine Pause“, die nicht nur der Psalm braucht, sondern auch der Alltag. Die Hektik fällt ab und der Atem geht ruhig und tief. Die Achtsamkeit wächst.

Ostkirchliche Mönche haben das „Herzensgebet“ als besondere Methode der Gebetsführung entdeckt. Dieses Gebet besteht nur in dem auf das Evangelium zurückgehenden Ruf „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner.“ Die Kürze des Textes erlaubt eine ständige nahezu unbegrenzte rhythmische Wiederholung. Dabei kann so gebetet werden, dass sich die Worte mit dem Ein- und Ausatmen verbinden. Auf diese Weise wird eine Verankerung in der Leiblichkeit und in die Dimension des Unbewussten erzielt. Eine unmittelbare Nähe zu Gott entsteht, die auf kein Kloster und keine Kirche angewiesen ist, sondern an jedem Ort der Welt, selbst an der Bus-Haltestelle oder vor der Ampel gesprochen werden kann. So wird das Ein- und Ausatmen zum Gebet. Unser vergängliches Leben, das einmal mit dem letzten Atemzug endet, verbindet sich mit dem Schöpfer.

Johann Wolfgang von Goethe hat das richtige Atmen als Wunder empfunden und der Wechselwirkung von Einatmen und Ausatmen ein Gedicht gewidmet:

„Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:

Die Luft einziehen, sich ihrer entladen.

Jenes bedrängt, dieses erfrischt;

So wunderbar ist das Leben gemischt.

Du danke Gott, wenn er dich presst,

und danke ihm, wenn er dich wieder entlässt.“

Pater Gerhard Eberts MSF altes Format
Pater Gerhard Eberts MSFBild: Gerhard Eberts

Zum Autor: P. Gerhard Eberts, geboren im Sauerland, ist Missionar von der Heiligen Familie (MSF). Nach Priesterweihe und Journalistenausbildung war er von 1968 bis 2011 Chefredakteur der Ordenszeitschrift „Sendbote“. Gleichzeitig war er bis 1984 Redakteur der Monatszeitschrift Weltbild. Zwischen 1991 und 2000 war er Studienleiter und Dozent beim Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchs (ifp) in München. Von 2002 bis 2010 war er verantwortlich für die Pressearbeit der Katholischen Akademie in Bayern, München. Heute arbeitet er als Hochschulseelsorger in der Katholischen Hochschulgemeinde Augsburg (KHG), und gibt Exerzitien.

Redaktionelle Verantwortung: Dr. Silvia Becker, Katholische Hörfunkbeauftragte