Kurswechsel in de Flüchtlingspolitik?
24. September 2021Als der syrische Bürgerkrieg in Syrien im Jahr 2011 ausbrach, gab sich die türkische Regierung großzügig gegenüber syrischen Schutzsuchenden. Ankara argumentierte damals, dass das syrische Regime Menschenrechtsverletzungen begehe. Syrische Flüchtlinge müssten daher beschützt werden. Obwohl die Opposition davor warnte, dass dieser Schritt Gefahren für Frieden und Wohlstand mit sich bringen könnte, leitete Präsident Recep Tayyip Erdogan eine "Politik der offenen Tür" ein. Die Türkei begann, ein "Schutzregime" einzurichten: Syrer wurden nicht mehr abgeschoben, sondern in Flüchtlingslagern untergebracht, wo sie grundlegende Versorgung erhielten.
Das Ergebnis dieser "Politik der offenen Tür" ist heute nicht zu übersehen: Nach Angaben des Innenministers Süleyman Soylu befanden sich im August 3,7 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei - fast die Hälfte von ihnen Kinder unter 18 Jahren. Die mit Abstand beliebteste Stadt für Exil-Syrer ist Istanbul. In der Bosporusmetropole leben nach Angaben der türkischen Migrationsbehörde rund 530.000 Syrer.
Viele türkische Experten und Teile der Opposition sehen die liberale Flüchtlingspolitik jedoch kritisch. "Die Türkei konnte die Zahl der Flüchtlinge nicht richtig vorausberechnen und unterschätzte völlig, wie teuer die Versorgung wird. Die Flüchtlinge wurden dadurch immer mehr zu einem Politikum", sagt etwa Hüseyin Bağcı, Fachmann für internationale Beziehungen an der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara.
Türkei als Zwischenstopp
In den folgenden Jahren stellte sich immer mehr heraus, dass tausende syrische Migranten nach Europa weiterzogen. Alleine im Jahr 2015 kamen nach Angaben der Europäischen Kommission über 850.000 Menschen in Griechenland an. Die EU musste reagieren: Trotz zahlreicher Einwände von Seiten des Flüchtlingskommissars der Vereinigten Nationen, des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) und verschiedener NGOs beschlossen Brüssel und Ankara im März 2016 das EU-Türkei-Abkommen. Der sogenannte Flüchtlingsdealsollte die Anzahl der Geflohenen, die über die östliche Mittelmeerroute in die EU kamen, reduzieren.
Migranten, die in Griechenland ankommen, werden seither, wenn sie kein Asylrecht besitzen, von griechischen Behörden in die Türkei zurückgeschoben. Im Gegenzug siedelt die EU die gleiche Anzahl asylberechtigter Syrer aus den Lagern in die EU-Mitgliedsländer um. Hinzu kommt, dass die EU im Rahmen des Deals insgesamt sechs Milliarden Euro zur Versorgung syrischer Flüchtlinge an Ankara auszahlte. Dem türkischen Präsident reicht das nicht: Erdogan hat mehrfach betont, dass die Türkei in den vergangenen achteinhalb Jahren bereits 40 Milliarden Euro für syrische Flüchtlinge ausgegeben habe.
"Das Problem kann nicht mit Geld gelöst werden"
Auch Bağcı kritisiert vor allem Brüssel für das Abkommen mit Ankara: "Die EU will das Problem allein dadurch lösen, dass sie Geld in die Türkei schickt. Doch die Türkei allein kann die Last der syrischen Flüchtlinge nicht bewältigen", mahnt der Experte. Auch Murat Erdogan, Migrationsexperte an der Deutsch-Türkischen Universität Istanbul, beklagt, dass Europa zu lange auf finanzielle Hilfen gesetzt hätte, um einen weiteren Flüchtlingszustrom zu vermeiden. "Die EU hat die falsche Politik verfolgt. Und jetzt setzt sie sogar die Finanzverhandlungen mit Ankara fort". Es sei viel effektiver, einen "Unterstützungs- und Kooperationsmechanismus" mit konkreten Hilfen einzurichten, argumentiert der Migrationsexperte, der nicht mit dem türkischen Präsidenten verwandt ist.
Stimmung gegenüber Flüchtlingen ist gekippt
Dieser scheint jedoch in letzter Zeit seine großzügige Flüchtlingspolitik zurückzufahren. Der Hauptgrund ist, dass die Akzeptanz der Millionen von Flüchtlingen in der türkischen Bevölkerung zurückgeht. Die zunehmende Ablehnung gegenüber Migranten ist hauptsächlich auf die in der Türkei seit Herbst 2018 anhaltende Währungs- und Wirtschaftskrise zurückzuführen. Existenzängste und Verteilungskämpfe haben in der türkischen Gesellschaft zugenommen. Vor allem die größte Oppositionspartei CHP legt daher eine schärfere Rhetorik gegen Flüchtlinge an den Tag. CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu hatte zuletzt erklärt, dass er alle Flüchtlinge in ihr Herkunftsland zurückschicken werde, sollte seine Partei an die Macht kommen.
Der Druck auf Erdogans Flüchtlingspolitik macht sich offensichtlich nun bemerkbar. "Wir sind uns der Unruhen in der Gesellschaft bewusst", sagte Präsident Erdogan zuletzt. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu kündigte an, dass man mit den Vereinten Nationen über die Rückführung der Syrer in ihr Heimatland beraten wolle. Auch AKP-Sprecher Ömer Çelik deutete zuletzt Verhandlungen an, die eine Wende in der Flüchtlingspolitik bedeuten könnten: "Es gibt noch keine konkrete Entscheidung", so Çelik. "Es ist notwendig, mit Jordanien, dem Irak und anderen Ländern zu sprechen, um eine Änderung unserer Politik vorzunehmen".
Integration statt Abschiebungen?
Für Migrationsexperte Murat Erdogan steckt hinter der Debatte um eine mögliche Rückführung von Syrern vor allem eine politische Drohkulisse der Opposition. Man wolle die Regierung unter Druck setzen - es handele sich jedoch um reinen Populismus, so Murat Erdogan. "650.000 syrische Babys wurden in der Türkei geboren. 770.000 syrische Kinder werden zurzeit in türkischen Schulen unterrichtet (…) Man kann nicht erwarten, dass diese Menschen freiwillig zurückkehren, man kann sie aber auch nicht einfach so zwingen, zurückzukehren". Stattdessen müsse man die entgegengesetzte Richtung einschlagen, fordert Migrationsexperte Erdogan, und dazu brauche es wirksame Maßnahmen zur Integration.