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Politik

Syrien: Die Invasion und die Dschihadisten

8. Oktober 2019

In Nordsyrien, wo die Türkei ihre "Sicherheitszone" einrichten will, liegen auch Lager und Gefängnisse, in denen organisierte Dschihadisten inhaftiert sind. Die könnten den Krieg zur Flucht nutzen - auch nach Europa.

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Syrien Türkische Militärpatrouille
Vorbereitung zum Einmarsch: Türkisches Militärfahrzeug an der Grenze zu Syrien, 4.10.2019Bild: AFP/D. Souleiman

Die Vorbereitungen sind abgeschlossen, die Offensive in Nordsyrien kann beginnen. So teilte es das türkische Verteidigungsministerium am Montagabend mit. Nun gehe es darum, eine so genannte Sicherheitszone zu installieren - ein nach Worten des Ministeriums unerlässlicher Schritt, der zu "Frieden und Sicherheit" in der Region beitragen werde.

Durch die Sicherheitszone wolle man "das eigene Überleben sichern", zitierte die türkische Nachrichtenagentur Anadolu den Sprecher des türkischen Außenministeriums, Hami Aksoy. "Auf diese Weise wird eine ernste Bedrohung für die territoriale Ganzheit und Einheit Syriens aufgehoben. Zudem wird die Grundlage dafür geschaffen, eine Rückkehr der Terroristen des 'Islamischen Staates' und ähnliche Probleme in Zukunft zu verhindern."

In der Sicherheitszone will die Türkei rund zwei Millionen derzeit in der Türkei lebende syrische Flüchtlinge ansiedeln. Zugleich will sie die kurdische Selbstverwaltung Nordsyriens beenden.

Syrien Türkische Militärpatrouille
Vorbereitung zum Einmarsch: Türkisches Militärfahrzeug an der Grenze zu Syrien, 4.10.2019Bild: AFP/D. Souleiman

Risiken der Invasion

Doch dass die Pläne so aufgehen, ist alles andere als sicher. Abdel Bari Atwan, Chefredakteur der Zeitung "Rai al-youm", erklärte am Montag, dass die Türkei durch die Invasion vier große Risiken auf sich nehme. So habe sie es mit einem bestens trainierten und ausgerüsteten Gegner zu tun, der von den USA mit Waffen versorgt worden und ausgebildet worden sei. Zudem sehe sich die Türkei durch eine Umsiedlung der Flüchtlinge sowie die Kontrolle und Versorgung der besetzten Gebiete enormen finanziellen Belastungen ausgesetzt. Ferner sei nicht ausgeschlossen, dass sich irgendwann auch die syrische Armee in die Kämpfe einschalten werde. Darüber hinaus übernehme die Türkei auch die Verantwortung für die kurdischen Gefangenenlager, in denen sich tausende Kämpfer des "Islamischen Staats" (IS) aufhielten - in Atwans Worten: "eine tickende Zeitbombe".

Die Frage, wie sich die inhaftierten Dschihadisten bei einer Invasion verhalten könnten, beschäftigt auch die deutsche Außenpolitik. "Eine der größten Gefahren besteht darin, dass sich IS-Häftlinge aus Nordsyrien in den Irak absetzen", sagt Roderich Kiesewetter (CDU), Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestags. "Dies betrifft unsere Sicherheitsinteressen direkt und hilft dem Land nicht bei der dringend anstehenden Stabilisierung. Obwohl unser Einfluss auf die Entwicklung hier begrenzt ist, bin ich überzeugt, dass die Bundesregierung alles daransetzt, eine amerikanisch-türkische Lösung in der Häftlingsfrage zu finden."

Zudem könnten die aus Europa stammenden Dschihadisten versuchen, in ihre Heimatstaaten zurückzukehren. In und in der Nähe des für die Invasion vorgesehenen Gebietes existieren drei solcher Lager, in denen sich IS-Angehörige befinden. Das größte von ihnen, al-Hol, liegt zwar außerhalb der Invasionszone, könnte aber von den Kämpfen ebenfalls betroffen sein. Um der Türkei entgegenzutreten, könnten sich die Kurden entschließen, auch einen Teil der Wachen aus den Lagern abzuziehen, sagt die Arabistin Claudia Dantschke, Leiterin der Deradikalisierungsberatungsstelle "Hayat".

Syrien, Al-Hasakeh: Flüchtlingslager  Al-Hol
Rekrutierungsgebiet der Dschihadisten: das Lager Al-HolBild: Getty Images/AFP/D. Souleiman

Dschihadisten könnten fliehen

Was geschehen wird, wenn in den Lagern weniger Wachen präsent wären, sei kaum vorherzusehen, so Dantschke. Es sei denkbar, dass sie die Kämpfe dann auch auf die Lager ausweiteten. Deren Insassen könnten die Situation nutzen, um die Flucht aus den Lagern zu versuchen und dann gegen die Kurden zu kämpfen oder abzutauchen. Man könne davon ausgehen, dass die Hilfsorganisationen die beiden kleineren Lager Ain Issa und Roj nicht mehr erreichen würden, da diese im Kriegsgebiet liegen. Auch das Lager Al-Hol würden die Mitarbeiter im Fall einer Invasion kaum mehr betreten, vermutet Dantschke: Dort dürfte die Sicherheitslage nach der Invasion völlig ungenügend sein.

Gerade im Lager Al-Hol gebe es noch Zellen von IS-Frauen, die im Lager das islamistische Kalifat wiederbeleben wollten. "Die werden natürlich ihre Chance nutzen und im Inneren des Lagers aktiv werden. Das könnte ein Aufstand, ein Ausbruchsversuch oder ein Sabotageakt sein- man weiß es derzeit noch nicht."

Zu den Lagern kommen die Gefängnisse. Sie befinden sich allesamt in der geplanten Schutzzone. "In ihnen sind die männlichen IS-Kämpfer inhaftiert. Unter ihnen befinden sich teils hochrangige Personen, Menschen, die im IS richtig Karriere gemacht haben, sich nun aber zum Glück in Haft befinden."

Dass die türkische Regierung auf den Umgang mit den IS-Kämpfern hinreichend vorbereitet ist, bezweifelt Dantschke. Für sie seien ganz andere Themen wichtig. Für sie stünden Sicherheitsinteressen mit Blick auf die kurdischen Milizen sowie die Umsiedlung der derzeit noch in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlinge im Vordergrund. "Das sind die beherrschenden Themen. Das Thema IS-Familien kommt in den türkischen Medien überhaupt nicht vor."

Syrien al-Hasaka | Demonstration von syrischen Kurden
Protest: Demonstration kurdischer Frauen gegen die geplante Invasion der Türkei in Nordsyrien, 7. 10.2019 Bild: Getty Images/AFP/D. Souleiman

Drohender Kontrollverlust

Mit Blick auf die Invasion werde es immer schwieriger, die in den Lagern und Gefängnissen einsitzenden Häftlinge zurück nach Deutschland oder in andere europäische Länder zu holen, sagt Dantschke. Dabei wäre das ein Weg, die Personen zu kontrollieren. "In Deutschland sind neben den Betreuern natürlich auch die Sicherheitsbehörden eingebunden. Sie kennen jeden einzelnen Fall." Anders sei es hingegen, wenn die Häftlinge in den Wirren des Krieges entkämen und auf eigene Faust zurück nach Europa zögen. "Das wäre eine enorme Gefahr."

Denn der IS mag militärisch zwar weitgehend geschlagen sein, doch seine Ideologie verbreitet er weiter. "Der IS passt sich an, er konsolidiert sich und schafft Bedingungen, die zu einem möglichen Aufstand im irakischen und syrischen Kernland führen", heißt es in einer im Juni 2019 veröffentlichten Studie der Vereinten Nationen. Als wesentliches Rekrutierungsfeld gelten in dieser Hinsicht jene Gefangenenlager in den kurdischen Gebieten, in die die Türkei nun einmarschieren will. Die prekären Bedingungen dort seien ideal, um die Ideologie des IS unter den dort inhaftierten Dschihadisten am Leben zu halten und neue Mitglieder zu rekrutieren.

Möglichkeiten der Reintegration

Die frisch angeworbenen wie auch die älteren Kämpfer könnten nun versuchen, nach Europa zu kommen. Damit verlöre man jede Kontrolle über sie. Anders sei es, wenn die Personen durch die europäischen Behörden in ihre Heimatstaaten gebracht würden. 

Unter ihnen befänden sich zwar auch Personen, die nicht mit der IS-Ideologie gebrochen hätten, sagt Dantschke. "In diesen Fällen wird die Arbeit nicht einfach werden. Trotzdem denken wir, dass wir mit denen arbeiten können. Wir gehen davon aus, dass sie sich durch ein engmaschiges Netz wieder in die Gesellschaft integrieren lassen."

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika