Stuttgart 21: Baumfällen unter Polizeischutz
1. Oktober 2010Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich am Freitag (01.10.2010) besorgt über die Gewalt bei den Protesten gegen "Stuttgart 21" geäußert. "Ich wünsche mir, dass solche Demonstrationen friedlich verlaufen. Das muss immer versucht werden und alles muss vermieden werden, was zu Gewalt führen kann", sagte Merkel in einem Rundfunkinterview.
Regierungssprecher Steffen Seibert sprach den bei der gewaltsamen Protestaktion Verletzten im Namen der Bundesregierung sein Mitgefühl aus. Den Einsatz der Polizei wollte er nicht bewerten. Die Kanzlerin, so Seibert, habe sowohl Sympathien für die Bürger, die ihr Protestrecht wahrnähmen, als auch für das Bahnprojekt.
Die Kanzlerin verteidigte das Bauvorhaben "Stuttgart 21" im Rundfunk erneut als sinnvoll und richtig. Wer mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene bringen und die Logistik modernisieren wolle, der müsse auch zu den dafür notwendigen Maßnahmen bereit sein. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im März gehe es auch um die Zukunftsfähigkeit des Landes insgesamt, sagte Merkel.
Die ersten Bäume sind gefällt
Nach der Eskalation vom Donnerstag standen sich am Freitagmorgen im Schlossgarten der baden-württembergischen Landeshauptstadt Hunderte Parkschützer und Polizisten an Absperrgittern gegenüber. Anders als am Donnerstag, als die Polizei mit Hilfe von Wasserwerfern und Pfefferspray die Demonstranten vertrieben hatte, kam es aber nicht mehr zu einer offenen Eskalation.
Währenddessen liefen die Schredder und zerlegten die Reste der ersten gefällten Bäume. Immer wieder machten Demonstranten ihrem Unmut mit Pfiffen oder Sprüchen wie "Schämt Euch" und "Verräter" Luft. Die Bagger mit ihren Sägen waren in der Nacht zum Freitag hinter behelmten Polizisten angerollt und hatten die Arbeit aufgenommen. Insgesamt sollen im Schlossgarten der Innenstadt 300 Bäume fallen, damit die Tiefbauarbeiten für den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs beginnen können.
Der bisherige Kopfbahnhof soll in eine unterirdische Durchgangsstation umbebaut und an eine geplante Neubaustrecke für ICE-Schnellzüge angebunden werden. Gegner des Projekts wenden sich vor allem gegen die veranschlagten Kosten von mehreren Milliarden Euro.
Große Freitagsdemo
Die Gegner wollen ihren Protest gegen das Milliardenprojekt fortsetzen. Die Organisation "Parkschützer" hat für den Abend zur wöchentlichen Freitagsdemo aufgerufen.
Organisationssprecher Matthias von Herrmann sagte, er erwarte bis zu 100.000 Demonstranten. Angesichts der Bilder, die nach den gestrigen Protesten durch die Medien gegangen seien, erwarte er eine zusätzliche Mobilisierung. "Die Leute sind hell entsetzt." Herrmann rechnet nach eigenen Angaben damit, dass der Protest mindestens bis zur Landtagswahl am 27. März 2011 weiterläuft.
Viele Verletzte
Am Donnerstag war die Polizei massiv gegen Demonstranten vorgegangen, die rund um den Hauptbahnhof schon seit Wochen gegen "Stuttgart 21" protestieren. Die Bilanz: Bis zum frühen Morgen hatte das Deutsche Rote Kreuz nach Angaben der Polizei 114 verletzte Demonstranten versorgt, von denen 16 in Krankenhäuser mussten. Zudem seien sechs Polizisten verletzt worden. Insgesamt 26 Demonstranten im Alter zwischen 15 und 68 Jahren wurden laut Polizei vorübergehend festgenommen.
Der baden-württembergische Innenminister Heribert Rech verteidigte das Vorgehen der Polizei. Die Anti-Konfliktteams seien abgewiesen worden, sagte Rech im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF). "Im äußersten Notfall sind dann auch Wasserwerfer erforderlich", vor allem dann, wenn eine angemeldete Demonstration in Gewalt ausarte. Gleichwohl bedauere er, dass es in Stuttgart zu solch einem harschen Polizeieinsatz gekommen sei. Es sei die Pflicht der Polizei, durchzusetzen, dass die geplanten Baumaßnahmen stattfinden könnten, fügte Rech hinzu.
Innenausschuss vertagt
Die Grünen scheiterten unterdessen mit ihrem Anliegen, die gewalttätigen Auseinandersetzungen um das "Stuttgart 21"-Projekt zum Thema im Bundestag zu machen. Ihr Antrag wurde mit den Stimmen der schwarz-gelben Koalition abgelehnt. Notwendig wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit gewesen. Der Bundestags-Innenausschuss wird sich erst am kommenden Mittwoch ausführlich mit der Gewalteskalation bei den Protesten befassen.
Am Freitag hätten Bundesregierung und Bundespolizei lediglich die Formalien geschildert, sagte der Vorsitzende des Ausschusses, Wolfgang Bosbach, nach einer Sondersitzung, die erst am Donnerstag beantragt worden war. Nach den Worten des Grünen-Innenexperten Wolfgang Wieland räumten die Verantwortlichen in der Sondersitzung aber ein, dass es am Donnerstag Falschinformationen gegeben habe. Von den Demonstranten seien nicht - wie zunächst behauptet - Pflastersteine geworfen worden. "Es handelte sich ganz offenbar um Kastanien", sagte Wieland.
Autorin: Pia Gram (dpa, dapd, rtr, afp)
Redaktion: Christian Walz/Ursula Kissel