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Studie: Jeder Deutsche isst 1094 Tiere

Sabine Kinkartz10. Januar 2013

Schnitzel, Aufschnitt, Hühnerbrust: Mit rund 90 Kilogramm Fleisch pro Jahr verbraucht ein Deutscher doppelt so viel wie ein Mensch in einem Entwicklungs- oder Schwellenland. Mit fatalen Folgen.

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Eine Scheibe rohes Fleisch Foto: Unpict (Fotolia)
Bild: unpict - Fotolia.com

"Sonntagsbraten", dieser Begriff hat seine Bedeutung inzwischen fast eingebüßt. In 85 Prozent aller deutschen Haushalte steht Fleisch fast täglich mehrfach auf dem Speiseplan, angefangen vom Wurstbrot zum Frühstück über das Schnitzel zum Mittagessen bis zur Brühwurst am Abend. Das meiste Fleisch essen junge Männer zwischen 19 und 24 Jahren sowie Frauen zwischen 25 und 34 Jahren.

Mit ihrem hohen Fleischkonsum sind die Deutschen in Europa nicht allein. Gut 93 Kilogramm pro Kopf und Jahr werden in der EU verbraucht. 20 Prozent davon landen im Mülleimer, sei es auf den Schlachthöfen, beim Transport, im Handel oder am Esstisch. Das geht aus einer umfangreichen Datensammlung mit dem Titel "Fleischatlas" hervor. Herausgegeben hat sie die den Grünen nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung zusammen mit dem Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) und der Zeitung "Le Monde Diplomatique".

Nach einer in dieser Datensammlung zitierten Berechnung des Vegetarierbunds Deutschland "verbraucht" jeder Deutsche in seinem Leben im Schnitt 1094 Tiere. Dies seien 945 Hühner, 46 Puten, 46 Schweine, 37 Enten, 12 Gänse, sowie je vier Rinder und Schafe. Für die Rechnung wurden Statistik-Daten zu Schlachtgewicht und Pro-Kopf-Verbrauch sowie eine durchschnittliche Lebenserwartung von 79,6 Jahren zugrunde gelegt, heißt es beim Vegetarierbund.

Mastputen in Bodenhaltung Foto: dpa
Massentierhaltung auf einer PutenfarmBild: picture-alliance/dpa/dpaweb

Hauptsache billig

Der "Fleischatlas" solle zum Nachdenken anregen, sagt Stiftungs-Vorstand Barbara Unmüßig. "Wir essen auch auf Kosten der Menschen in der Dritten Welt." In den ärmsten Ländern dieser Erde könnten sich die Menschen noch nicht einmal 10 Kilogramm Fleisch pro Kopf und Jahr leisten, würden aber unter den Folgen der Futtermittelproduktion für die Industrieländer leiden. Darüber denken jedoch die wenigsten Deutschen nach, wenn sie im Supermarkt vor den üppigen Stapeln mit in Plastikschalen abgepacktem Hackfleisch, Hühnerbrüsten und Bratwurst stehen. Dort zählt vor allem der Preis, und der ist oft niedriger als in der benachbarten Gemüseabteilung.

Billig sei das Fleisch aber nur vordergründig, sagt der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger. Zum Kaufpreis kämen die aus Steuergeldern finanzierten Subventionen, mit denen große Mastbetriebe und Schlachtereien gefördert würden. Für 2012 beziffert die Naturschutzorganisation die Subventionen in Deutschland mit rund 80 Millionen Euro.

Dazu kämen Probleme wie der Rückgang von Pflanzenarten, Grundwasserbelastungen und der massive Einsatz von Antibiotika in Großställen. Schon jetzt sterben europaweit pro Jahr rund 25.000 Menschen aufgrund von Antibiotika-Resistenzen. "Wir können davon ausgehen, dass wir zu jedem Euro, den wir für Fleisch ausgeben, noch einen Euro dazulegen müssen, um die direkten und indirekten Folgekosten abzufangen", rechnet Weiger vor.

Das deutsche Rind knabbert am Regenwald

Mit Sorge beobachtet der BUND, dass Deutschland sich anschickt, zu einer der führenden Fleischexportnationen weltweit zu werden. Aktuell wird 17 Prozent mehr Fleisch produziert, als im Land verbraucht wird. Kein anderes Land in der EU, so klagt Weiger, biete den industriellen Fleischproduzenten so günstige Investitionsbedingungen wie Deutschland. Das habe zur Folge, dass sich immer mehr Mäster beispielsweise aus den Niederlanden in Deutschland niederlassen. Zudem sperre sich die Bundesregierung nach wie vor dagegen, den Einsatz von Antibiotika, ohne die eine Massentierhaltung überhaupt nicht möglich sei, strenger zu regulieren.

Wo Tiere gehalten werden, da muss es auch Futter geben. 60 Prozent der deutschen Getreideproduktion und 70 Prozent der hierzulande geernteten Ölsaaten landen in den Mägen der Tiere. Doch das reicht bei Weitem nicht aus. Fast ein Drittel des Futters muss zusätzlich importiert werden. Hier, so heißt es im "Fleischatlas", beginne "das deutsche Rind, am Regenwald zu knabbern".

Sojaplantage in der Nähe von Santa Fe Foto: Juan Mabromata (AFP)
Sojaplantage in ArgentinienBild: Getty Images

Die Folgen des Soja-Anbaus

Allerdings sind es nicht nur die Deutschen, die Tierfutter importieren. Bei Soja ist die EU nach China der weltweit zweitgrößte Nettoimporteur. Rechnet man die Einfuhren der Europäer auf die für die Erzeugung notwendige Fläche um, dann importiert die EU 17,5 Millionen Hektar, das entspricht der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche Deutschlands.

Vor allem in Brasilien und Argentinien werde die Soja-Produktion systematisch ausgeweitet, sagt Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. "Unsere Fleischproduktion ist empirisch nachweisbar mitverantwortlich für die Entwaldung des Amazonas. Zuerst kommt der Holzeinschlag, dann werden die Viehweiden ausgeweitet, das ist ein Verdrängungswettbewerb, der hier stattfindet." Dort, wo vorher die Rinder auf der Weide standen, werde dann Soja angebaut, so Unmüßig.

Soja, das in Südamerika zu 90 Prozent gentechnisch verändert ist. So sind die Pflanzen unter anderem gegen das Herbizid Glyphosat resistent. In Argentinien werden jährlich 200 Millionen Tonnen dieses Unkrautvernichtungsmittels ausgebracht. Das geschehe in der Regel mit Flugzeugen, so Unmüßig und habe weitreichende Folgen für die Menschen und ihr Trinkwasser in den betroffenen Regionen.

Forderung nach einer Agrarwende

Der Anbau von Futtermitteln für die Tierhaltung in den Industrieländern hat nach Erkenntnissen der Böll-Stiftung aber auch fatale Folgen für die Gesellschaft. Barbara Unmüßig spricht von sozialen Verwerfungen in der Dritten Welt. "Diejenigen, die sich gegen die Landnahme von Soja wehren, sind von Menschenrechtsverletzungen betroffen. Wer sich für Landrechte in Brasilien, Argentinien, Paraguay, Kambodscha oder Äthiopien einsetzt, wird immer häufiger massiv politisch bedroht und eingeschüchtert und muss mit einer Einschränkung seiner politischen Rechte leben."

Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Foto: Claudia Esch-Kenkel (dpa)
Fordert eine Agrarwende: Barbara Unmüßig von der Böll-StiftungBild: picture-alliance/dpa

Die Böll-Stiftung und der BUND fordern dringend eine Kehrtwende in der Agrarpolitik. "Subventionen für die intensive Fleischproduktion streichen, Landnahme im Süden verhindern, die kleinbäuerliche Landwirtschaft fördern und das Menschenrecht auf Nahrung endlich ernst nehmen", so formuliert Unmüßig. Der BUND setzt sich dafür ein, bei der laufenden EU-Agrarreform die Vergabe der 60 Milliarden Euro Subventionen an strenge Umwelt- und Tierschutzauflagen zu binden. Hinter den Kulissen laufe aber gerade Deutschland in Brüssel Sturm gegen die von der EU-Kommission und dem EU-Parlament geforderten Änderungen. "2013 muss die Bundesregierung zeigen, dass sie Lokomotive der EU-Agrarreform ist und nicht deren Bremserin", fordert der BUND-Vorsitzende Weiger.